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Polen vor der Zukunft

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Orte, Zeiten, Namen — welchem Polen wirbeln sie nicht durch den Kopf? 1794, 1863, 1956, 1971, 1981. Lwow, Katyn, Gdansk.

Nicht nur Jahreszahlen und historische Orte, auch einzelne Tage haben ihre Bedeutung. Der 1. August, der 3. Mai, der 13. Dezember. Die Polen sind wahre Spezialisten der Erinnerung. Keinen Aufstand, keine Rebellion läßt das patriotische Gedächtnis aus.

Und der 5. April 1989?

Man runzelt die Stirn. Es war doch keine Revolution, die den Abschluß der sechswöchigen Rundtischgespräche zwischen Solidaritätsführern auf der einen und gottlosen Kommunisten auf der anderen Seite besiegelte.

Der Kommunist Jaruzelski erinnerte sich im achten Jahr seiner absolutistischen Herrschaft an den 200. Jahrestag der Französischen Revolution und brachte das Kunststück zuwege, zu sagen, ohne bürgerliche Werte ließe sich heute kein modernes Staatswesen regieren - also solle es freie Wahlen geben.

Zumindest ein Haus des ab nun in Sejm und Senat geteilten Parlaments könne sich in freier Wahl konstituieren, das andere müsse (noch) in der Hand der Kommunisten bleiben (FURCHE 11/1989).

Und das selbst auf die Gefahr hin, daß dadurch der Senat mehrheitlich von „Gegnern des Sozialismus“ beherrscht werde.

Und Jaruzelskis Mannschaft nahm dabei weniger auf Michail Gorbatschow Bezug als auf Alexis de Tocquevilles scharfsinnige Kritik des französischen Ancien Regime: „Eine schlechte Regierung erreicht den Moment der höchsten Gefahr, wenn sie versucht, sich zu bessern. Nur die höchste Staatskunst kann den Thron des Königs retten, wenn er sich nach langer Unterdrückung auf den Weg macht, das Los seiner Untertanen zu erleichtern.“

Der Staatskünstler, in diesem Falle der ehemalige Widersacher Lech Walesa, will sich erneut einbringen. Und diesmal für die unabhängige Gewerkschaft und die der kommunistischen Partei. Er will „für das ganze Land etwas herausholen“. Als Bittsteller werde er durch die Welt ziehen, sich weltweit für Wirtschaftshilfe an Polen einsetzen - verkündete der Nobelpreisträger unlängst, „damit Polen Europa in jeder Hinsicht ebenbürtig wird“.

Große Worte, doch Bundeskanzler Helmut Kohl scheint im Sommer Polen besuchen zu wollen, US-Präsident George Bush will dies möglicherweise gleichtun - und beide haben vor, ihren Geldsäckl zu öffnen. Die 38 Milliarden Dollar Auslandsschulden sollen umgeschuldet werden können. Polen soll zu neuen Krediten verholfen werden.

Darauf zielt auch die Opposition im Lande. Sie will zu den freien Wahlen zum Senat Anfang Juni mit der Wahlwerbung antreten, daß nur dann alles besser wird, wenn sie gewählt wird. •

Das alles könne für Osteuropa Modellcharakter haben, bewertet der „flexible Mann aus Eisen“ -wie Walesa kürzlich in der Sowjetpresse überschwenglich porträtiert wurde — die ersten freien Wahlen in Polen seit 1946. „Unser Erfolg, der uns aber nichts zu essen gibt“, wie der Arbeiterführer selbstkritisch zugibt.

Aber immerhin ein Erfolg, der Anlaß zu Optimismus gebe. „Das ist wie bei einer Wohnungsrenovierung. Zuerst eine fürchterliche Unordnung, aber die Handwerker machen ihre Arbeit, und dann stellt man alles wieder an seinen Platz und lebt besser als vorher.“ So einfach stellt das der Elektriker von der Danziger Leninwerft im sowjetischen Massenblatt .J^eue Zeit“ dar.

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