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Historische Chancen

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Nach dem warnenden Brief, den das sowjetische ZK an die Warschauer Genossen gerichtet hat, scheint eine Verschärfung des lange schwelenden Konfliktes zwischen Moskau und Warschau unausweichlich. Dabei hat die „Erneuerung" in Polen die historische Chance geschaffen. Russen und Polen miteinander auszusöhnen und -soparadox es klingt - die kommunistische Herrschaft im Land an der Weichsel z u festigen.

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Nach dem warnenden Brief, den das sowjetische ZK an die Warschauer Genossen gerichtet hat, scheint eine Verschärfung des lange schwelenden Konfliktes zwischen Moskau und Warschau unausweichlich. Dabei hat die „Erneuerung" in Polen die historische Chance geschaffen. Russen und Polen miteinander auszusöhnen und -soparadox es klingt - die kommunistische Herrschaft im Land an der Weichsel z u festigen.

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„Sie sind alle mehr oder weniger verrückt: Ich kann mir die Lage in Polen nicht anders erklären." Das ist nicht etwa der Ausspruch von Parteichef Breschnjew aus dem Jahre 1981; nein, das rief 1830 der russische Zar Nikolaus aus, als der polnische Fürst Drucki-Lubecki über jene folgenreiche Revolte verhandelte, die in diesem Jahr Warschauer Kadettenschüler mit dem Sturm auf die Residenz des russischen Statthalters und Zarenbruders ausgelöst hatten. _

Verrückt - so muß Breschnjew scheinen, was sich im Polen des Jahres 1981 abspielt und so gar nicht in sein machtpolitisches und ideologisches Vorstellungsbild paßt. Und was einst Metternichs Botschafter in St. Petersburg, Graf Fiquelmont notierte, mag auch die Gedanken von heute im Kreml widerspiegeln: „Sollten die polnischen Provinzen verlorengehen, würde Rußland wieder nur zu einem asiatischen Reich werden."

Aber dieser Gedanke ist falsch. Denn die polnische Erneuerung seit dem August 1980 hat - beweisbar - niemals darauf abgezielt noch wurde es je offiziell oder inoffiziell von den wichtigen gesellschaftlichen Kräften geäußert, Polen aus den sozialistischen Ländern herauszulösen und das Glacis der Sowjetunion zerstören. Die Bündnistreue ist seit dem August 1980 nie zur Debatte gestanden.

Was sich substantiell geändert hat, kann langfristig nur zu einer Stärkung kommunistischer Herrschaft in Polen führen. Warum?

• Die KP Polens ist, realistisch betrachtet, weder historisch noch von den gesellschaftlichen Verhältnissen und der ideologischen Überzeugung des Volkes her tatsächlich die „führende Kraft". Ihre einzige politische Legitimität ist eine geopolitische, ist der mächtige Nachbar Sowjetunion, der diese Kraft an der Macht wünscht. Das ist eine sicherlich ungenügende politische Legitimität.

Durch den Prozeß der „Erneuerung" hat (und könnte weiterhin) die polnische KP an Legitimität gewonnen. (Aber natürlich kann sie niemals eine Legitimität erreichen wie eine Partei im demokratisch-pluralistischen System des Westens.) Wer erlebt hat, wie aus dieser Partei der Duckmäuser-Karrieristen sich nun eine lebendige, idealistisch gesinnte Bewegung entwickelt (wobei, wie in der Gewerkschaft, die 20- bis 40jährigen den Ton angeben), erkennt den Zuwachs an echter politi-’ scher Kraft.

Durch den Prozeß der Erneuerung wird, wenn der Parteitag weiterhin so demokratisch vorbereitet werden sollte wie bisher, endlich auch die Parteispitze über unzweifelhafte Legitimität verfügen. Sie wird von der Basis getragen - nicht sie hat die Basis manipuliert.

Bisher hat sich die polnische KP in ihre Rolle als „führende Kraft" in den Abkommen bescheinigen und bestätigen lassen müssen. Aber was zählt das realpolitisch? Wirklich Gewicht hatte das nicht, das verleiht nur die Legitimität. Sie kann der Parteitag im Juli geben.

• Der zweite Faktor der „Erneuerung" ist die unabhängige Gewerkschaft „Solidarität", die ebenfalls zur Festigung kommunistischer Herrschaft beitragen kann. Warum?

Die Geschichte Volkspolens zeigt, daß die Partei - trotz gewisser Kontrollinstanzen - nicht in der Lage war, sich gewissermaßen selbst zu kontrollieren. Macht und Kontrolle sind per definitio-nem zwei Dinge, die sich ausschließen. Eben deshalb ist es gerade in Polen immer wieder zu Auswüchsen, Fehlern und Irrtümern gekommen, verlor dadurch die Partei immer mehr an Glaubwürdigkeit und Kritik.

Wenn nun die „Solidarität" darauf verzichtet, eine „Oppositionspartei" zu sein - in Anerkennung der politischen Realitäten - und darauf verzichtet, Macht zu ergreifen oder an der Macht teilzuhaben, so kann sie doch eine Art gesellschaftliche Kontrollfunktion ausüben. Sie kann Kritik an den Handlungen der „führenden Kraft" äußern, moralisch und politisch wachsam sein, ihre

Finger auf offene Wunden legen, Einfluß auf das gesellschaftliche und öffentliche Bewußtsein ausüben.

Der Literat und Essayist Zagajewski aus Kraka« folgert daraus: „Der Machtbereich der kommunistischen Partei würde zwar dadurch geschmälert, die Art ihrer Machtausübung könnte aber sogar vervollkommnet werden. Denn eine Machtkontrolle wäre für diese Partei zwar eine Bremse und ein Hindernis, aber auch die Rettung. Es kann für sie eine ßefreiung von jener regelmäßig wachsenden Entfremdung sein, vom Verlust des Kontaktes mit der Gesellschaft."

Das alles sind - zugegeben paradoxe - Überlegungen. Sie brechen aus den gewohnten Denk-Schemata aus, stehen vor allem im radikalen Widerspruch zu jenen Gedanken, die im Moskauer Brief formuliert sind.

Es scheint derzeit so, als würde der jahrhundertelange Konflikt zwischen Russen und Polen erneut zu möglicherweise blutigen Auseinandersetzungen führen, die diese beiden Völker schon ausgetragen haben. Soll es wieder, weil man nicht willens ist, „originell" zu denken, zu einer Tragödie kommen?

Tocqueville sagt in „Der alte Staat und die Revolution" folgendes: „Man sieht, daß die Geschichte eine Gemäldegalerie ist, in der es wenig Originale und viele Kopien gibt."

Sollen Polen und Russen wieder eine Tragödie kopieren, eine Tragödie aus ihrer gemeinsamen Geschichte? • ^ ti.s

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