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Kirche unter Hammer und Sichel

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KIRCHE UND STAAT IN DER SOWJETUNION. Von Wilhelm de Vries. Verlag Anton Pustet, München 1959. 202 Seiten. Preis 12.20 DM

Die Grundthesen des mit östlichen Dingen gut vertrauten Jesuitenpaters, der bereits vor einem Dezennium ein Sammelwerk über das Christentum in der UdSSR herausgegeben hatte, treffen durchaus zu, und es ist sehr nützlich, daß er sie, gegenüber die Wirklichkeit verniedlichenden Darstellungen, energisch verficht. Die Lage der Orthodoxen Kirche und schon gar die der anderen christlichen Bekenntnisse, ja die jeder religiösen Gemeinschaft in der Sowjetunion, ist alles andere denn rosig. Schönmalende Schilderungen, die von allerlei Rouges chretiens herumgeboten wurden — man denke an den bekannten Roten Dean Hewlett Johnson oder an den hervorragenden Schweizer Rußlandkenner Professor Fritz Lieb oder gar an die offizielle Propagandaschrift, die der Moskauer Patriarch während des zweiten Weltkriegs unter dem Titel „Die Wahrheit über die Religion in Rußland“ veröffentlichen ließ —, sind ebenso irreführend wie die wenigstens für die Gegenwart und für die letztvergangenen Jahre kraß übertreibenden Berichte über grausame Verfolgungen.

P. de Vries stellt folgende Hauptthesen auf, die er überzeugend belegt. Erstens: der Gegensatz zwischen dem kommunistischen Staat und jedem an seiner Wesenheit festhaltenden Bekenntnis ist unüberbrückbar. Zweitens: ein Waffenstillstand, wenn man will eine befristete und umgrenzte Koexistenz, zwischen diesem Staat und der Kirche ist unter der Voraussetzung denkbar, daß beide einander ignorieren und daß sie nicht versuchen, Unvereinbares zu atnalgamieren. Drittens: die Orthodoxe Kirche in der UdSSR und in den europäischen Satellitenstaaten Moskaus ist über diese Haltung weit hinausgeschritten und hat dabei manches von ihrer wesentlichen christlichen Substanz preisgegeben. In welchem Maße das auf dogmatischem Gebiet geschehen ist, das wird nicht oder nur nebenhin erörtert. Es genügt aber, auf die groteske Liebedienerei hinzuweisen, mit der die höchsten Würdenträger der Orthodoxen Kirche — die Patriarchen Sergej und Aleksej, der Metropolit von Kreticy, Nikolaj. voran — Stalin und dem kommunistischen Regime geschmeichelt, wie sie es verherrlicht haben. (Leider hat sich P. de Vries die feinste Blüte dieser Anbiederungen entgehen lassen: den Trauergottesdienst, den der Patriarch abhielt, um das Gedächtnis des „Knechtes Gottes“, Stalin, zu feiern; ihn, den — was der Autor allerdings in dankenswerter Weise nach dem „2urnal Moskovskoj Patriarchii“ zitiert — den Metropolit Nikolaj den „größten Mann unserer Zeit“ geheißen hatte, „dessen Name mit Liebe und Verehrung genannt wird“ und den zu schauen „ein hohes Glück“ bedeutet.) Viertens: um diesen Preis der uneingeschränkten Unterwerfung, der eifrigsten Unterstützung des kommunistischen Kurses nach innen und vor allem nach außen, bei den Pravo-slawen der Volksdemokratien und des Nahen Ostens, hat die Orthodoxe Kirche eine sehr begrenzte Bewegungsfreiheit bekommen: ihre Würdenträger aber verfügen, je nachdem, über Paläste, sehr gute oder anständige Wohnungen, sie erfreuen sich beträchtlicher, auskömmlicher oder wenigstens vor Entbehrung schützender Einkünfte und sie werden mit großer Höflichkeit oder mit einem Minimum von Artigkeit behandelt. Dem fügen wir bei: Fünftens: die Ausübung des Kultus ist an sich frei, doch bleibt es nach wie vor für einen mittleren oder höheren, geschweige für einen hohen Staatsbeamten nicht ratsam, an ihm teilzunehmen. Anders steht es mit Künstlern, Gelehrten, besonders tüchtigen Technikern, denen Anhänglichkeit an den „überwundenen Aberglauben“ als bedauerliche Schrulle nachgesehen werden kann. Sechstens: grundsätzlich geht der Kampf gegen jede Religion weiter; taktischen Erwägungen gemäß bald heftiger, bald lauer. Siebentens: die Zahl der Priester ist zwar unzureichend, doch wesentlich höher als während der Kampfjahre des Kommunismus, ebenso die der Kirchen. Fine zuverlässige Statistik der Gläubigen ist unmöglich; man wird aber nicht sehr fehlschätzen, wenn man etwa die Hälfte der Bevölkerung als noch irgendwie mit der Kirche verbunden ansieht. Allerdings ist der Prozentsatz der Gläubigen (oder nicht völlig Ungläubigen) um so höher, je älter die betrachteten

Bevölkerungsschichten sind. Immerhin scheint bei den jüngsten Jahrgängen wieder etwas stärkeres Interesse für die Religion zu bestehen, die bei ihnen irgendwie den Reiz des Exotischen hat.

Endergebnis: die Kirche und die Gläubigen haben einen schweren Stand, auch wenn zeitweise keine harte Verfolgung stattfindet. Die scheinbare Toleranz des Regimes ist bestenfalls aus ähnlichen Motiven zu erklären wie die Methoden einer Trinkerentwöhnungsanstalt, die es für wirksamer ansehen, den Patienten nicht etwa sofort jeden Alkoholgenuß zu verwehren, sondern langsam die Dosis des gefährlichen Giftes einzuschränken. Und als Gift gilt den kommunistischen Staatslenkern der UdSSR jede Religion, jede nicht rein materialistische Weltanschauung, jedes „Opium fürs Volk“.

An der vortrefflichen Schrift P. de Vries' hätten wir zu bemängeln, daß im Titel von „Kirche und Staat in der Sowjetunion“ die Rede ist, faktisch aber nur von der Orthodoxie (dem „Pravoslavie“): daß anderseits auch über die anderen Ostkirchen berichtet wird. An und für sich wäre nichts dawider einzuwenden, nur hätte dann der Titel zutreffender sein müssen. Mitunter macht sich ferner die Tatsache störend bemerkbar, daß dieses Buch aus mehreren Einzelaufsätzen zusammengeschweißt ist. So wird zum Beispiel die Entwicklung ab 1957 nicht mehr genügend berücksichtigt.

In der sehr unzulänglichen Bibliographie vermissen wir grundlegende Werke, wie das „Handbuch des Weltkommunismus“ von J. M. Bochenski und G. Niemeyer, John Shelton Curtiss: „The Russian Church and the Soviet State“ (1953, deutsch 1957), W. Alexeev: „The Foreign Policy of the Moscov Patriarchate“, M. Spinka: „The Church in Soviet Russia“, die Sammelwerke von VI. Gsovski(j): „Church and State behind the Iron Curtain“ und „Zwanzig Jahre Trennung von Kirche und Staat“ (1938, russisch, kommunistisch), die unbedingt zu nennenden allgemeinen Bücher von George Kennan, Klaus Mehnert, Boris Meißner, von zahlreichen anderen Publikationen in russischer Sprache, aus der Sowjetunion und aus der Emigration, aber auch britischer, amerikanischer, französischer und sogar deutscher Autoren ganz zu schweigen.

P. de Vries' wertvolle Arbeit verdiente eine Neuauflage, die den beifallheischenden Leitsätzen des Verfassers den ihnen gebührenden solideren Hintergrund gewährte.

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