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Die Strangulierung der Religionen geht lautlos vor sich

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Wassilij Furow ist nicht irgendwer, sondern der stellvertretende Vorsitzende des sowjetischen „Rats für religiöse Angelegenheiten”. Sein Kommentar in der „Bolschąja Sowjetskaja Entsiklopedija” muß somit als authentisch angesehen werden und die darin mitgeteilten Daten widersprechen Fu- rows zweckbedingter Behauptung: „Das religiöse Leben in der Sowjetunion stirbt aus.” Die veröffentlichte Zahl der geschlossenen Synagogen, Moscheen, orthodoxen und katholischen Kirchen, vor allem aber der aufgelösten religiösen Gruppen, verrät anderes, als der Verfasser beabsichtigt hatte. Vor der Oktoberrevolution gab es 77.676 orthodoxe Kirchen, derzeit nur - oder dennoch? - ihrer 7500. Laut Furow sind davon 1000 zwar amtlich registriert, „funktionieren” aber nicht. Vor der sowjetischen Okkupation gab es in den drei baltischen Ländern 4200 katholische Kirchen, heute sind davon noch ungefähr 1000 offen. Auch die Moscheen wurden „durchforstet” und ihre Zahl von 24.000 auf 1000 reduziert, von denen wieder nur 300 registriert sind; die übrigen „existieren halbwegs” (zu deutsch wahrscheinlich: illegal).

Furow gibt zu, daß man auch das Judentum nicht mit Samthandschuhen angefaßt habe. Von den 5000 einstigen Synagogen blieben 200 übrig, aber nur 92 davon sind „registriert”, zu deutsch: zugelassen. Diese Zahl dürfte übrigens korrekt sein, denn ein anderes Mitglied des obengenannten Rates, Josef Shapiro, beschäftigte sich 1976 in der „Nowąja Wremja” mit den „praktizierenden Juden” und gab die gleichen Relationen bekannt, nämlich 200 jüdische religiöse Gemeinschaften und 92 „regulär operierende Synagogen”.

Genosse Furow berichtete zudem über 50 Rabbis, die gegenwärtig „professionell aktiv” seien. Der Oberrabbiner von Moskau, Jakow Fishman, ist offizielles Mitglied dės „Rätes für religiöse Angelegenheiten” und hält als Mittelsmann zwischen Partei und Judenschaft die wenig beneidenswerte Stellung zwischen zwei Mühlsteinen. Schon sein Politwerdegang war nicht gerade dazu angetan, das Vertrauen der Seinen zu ihm zu steigern. Er begann seine Laufbahn als Nachtwächter in der Likchatschew-Fabrik und absolvierte später die Moskauer Hebräische Hochschule. Furow benützt diese Tatsache als Beweismaterial für die Behauptung, religiöse Gemeinschaften würden seitens des zuständigen Rates hilfreich und liebevoll behandelt. Bemerkenswert ist dabei, daß weder die Namen, noch die Wirkungskreise der anderen 49 Rabbiner in der UdSSR veröffentlicht wurden. Jakow Fishman ist also sozusagen das einzige Parade- und Ausstellungsstück des Regimes. Zu seinen Obliegenheiten gehören vor allem der Empfang, die Begleitung und die Betreuung ausländischer kirchlicher Würdenträger. Im Mai 1976 durfte er die Vereinigten Staaten besuchen, wo er von fast allen jüdischen” Organisationen mit Mißtrauen empfangen wurde und scharfer Kritik, mitunter auch persönlichen Angriffen ausgesetzt war.

Die Zahl der christlichen Sekten in der Sowjetunion wird amtlich auf4000 geschätzt. Sie sollen insgesamt 400.000 Mitglieder zählen, von denen 60 Prozent als dem Regime gegenüber loyal anzusehen seien. Angeblich existieren aber auch 1200 illegale Sekten, deren Mehrzahl „antisowjetisch orientiert” sein soll. Offiziell als Feinde des Regimes werden eingestuft: die Adventi- sten, die Reformierten Baptisten, die „altgläubigen” Orthodoxen, die moldauischen Innokentiewtsy und die Murakowtsy.

Priestermangel ist für alle religiösen Gemeinschaften charakteristisch. Für die Priesterseminare melden sich allerdings doppelt so viele junge Männer, als dort aufgenommen werden dürfen. Die Aufnahmekommissionen, die von der Partei und der Polizei scharf überwacht werden, nehmen bei der Ablehnung von Priesteramtskandidaten zu durchsichtigen, oft lächerlichen Begründungen Zuflucht. Da ist davon „labilem Gesundheitszustand” die Rede, und von „extremen religiö sen Ansichten”. Derzeit amtieren in den 7500 orthodoxen Kirchen nur 5900 Priester. Nur für die Hälfte der luther- anischen Gotteshäuser gibt es einen Pastor.

Religiöse Zeremonien stoßen auf alle erdenklichen Hindernisse. Im Jahre 1965 konnte noch ungefähr ein Drittel aller Säuglinge getauft werden, zehn Jahre später waren es nur noch 19 Prozent. 1975 konnten immer noch 40 Prozent aller Familien ihre Verstorbenen kirchlich bestatten lassen, aber nur 2,5 Prozent aller jungen Ehepaare wurden auch in der Kirche getraut. Die absoluten Zahlen ergeben jedoch ein anderes Bild als die soeben zitierten relativen. Im Jahre 1975 wurden 876.000 Neugeborene getauft, 68.300 kirchliche Ehen wurden geschlossen und 950.000 Verstorbene erhielten ein religiöses Begräbnis. Dabei ist zu bedenken, daß die Mutigen, die sich zu ihrem Glauben bekennen, verschiedenen Repressalien ausgesetzt sind, und daß religiöse Zeremonien nur auf den wenigen, offiziell hiefür zugelassenen Plätzen durchgeführt werden können. Die Abschreckungsmethoden des Regimes sind überaus wirkungsvoll, zugleich wird die atheistische und antireligiöse Propaganda parteiamtlich gefördert. Vor allem junge Leute, die es dennoch gewagt haben sin religiösen Zeremonien aktiv teilzunehmen, werden in den Massenmedien aufs Korn genommen. Und nicht alle Menschen sind zum Widerstandskämpfer geboren.

Manchmal werden Kirchen amtlich geschlossen, sogar niedergerissen. So wurde 1974 die „Kirche der Verklärung” in Shitomir geschlossen und trotz des Protestes der Pfarrgemeinde dem Erdboden gleichgemacht.

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