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Der schwerste Stein fällt immer auf die Häupter der Gläubigen…

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„Dissidenten“, stottert der Mann auf der Straße und wiederholt die Frage des Interviewers. „Was sind das eigentlich für Menschen?“ Die Antwort ist meistens dieselbe: „Mitglieder einer von der sowjetischen Intellektuellenschicht losgelösten Gruppe, die mit der marxistischen Ideologie nicht mehr konform gehen.“ Der russische Schriftsteller Jewgenij Ternovsky,dervor drei Jahren in den Westen geflüchtet ist und jetzt in Paris lebt, interpretierte während eines Vortrages in Wien die Entstehung der Dissidentenbewegung aus einer bislang eher unbeachteten, nämlich aus der religiösen Sicht: Das Dissidententum in der Sowjetunion hat sowohl religiöse, als auch politische Wurzeln. Die religiöse Motivation ist sogar bedeutend stärker. Die Sowjetmenschen sind nach den vielen Jahren des Terrors und der Unterdrückung schreckhaft und ängstlich geworden. Von politischer Aktivität versuchen sie sich möglichst femzuhalten.

Erste Anzeichen einer Dissidentenbewegung gab es schon in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Da mals hatte die Verfolgung der Gläubigen teilweise nachgelassen; das war für die Masse der Bevölkerung ein großes Erlebnis. Ternovsky erklärte dazu: ,jZwar sind nicht alle Gläubigen mit einem Schlag praktizierende Christen geworden, aber sie haben im allgemeinen Verfall die aufblühende Kirche gesehen.“ Schließlich hatte der Terror des Stalinismus gerade auch im Klerus furchtbare Wunden hinterlassen. Ausrotten konnte das Regime die Religion dennoch nicht. Im Gegenteil. Die Kraft der sich neu formierenden Kirche beeindruckte viele Intellektuelle.

Rund 60 Millionen Gläubige bei einer Gesamtbevölkerung von 250 Millionen gibt es nach amtlichen Angaben in der Sowjetunion. In Wirklichkeit sind es sehr viel mehr, meinte Ternovsky.

Der strittigste Punkt zwischen den Gläubigen und der Partei liegt im „Kodex der Kommunisten“, dem Parteistatut der KPdSU. Die Christen überschreiten die vor geschriebenen Gesetze nicht, aber jener Absatz im Kodex ist für sie unerfüllbar, in dem von jedem Staatsbürger gefordert wird, al les zum Wohle der Partei zu tun. Es ist nicht möglich, sich zum Christentum zu bekennen und gleichzeitig die Grundsätze einer durch und durch atheistischen Ideologie anzuerkennen: „Deshalb wird ein Gläubiger auch niemals in der Partei einen Posten einnehmen können“, folgerte Ternovsky. Gleichsam ein Teufelskreis: Christen können in der Partei nicht mitarbeiten und ihre Religionsgemeinschaft repräsentieren, sie sind im politischen Leben zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.

Kardinal König schrieb dazu in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, daß es wahrscheinlich noch zu früh sei, eine Revision der marxistisch-leninistischen Theorie über Religion und Christentum zu erwarten. „Daß Marxismus-Leninismus und Staatsatheismus nicht unbedingt zusammengehören, haben westliche Kommunisten wie Luigi Longo zumindest für die Praxis schon in den sechziger Jahren zugegeben, argumentierte der Kardinal. „Es ist die Frage, ob es in einem so großen Land wie der Sowjetunion nicht möglich sein müßte, den neuen ,Konfessio-

nalismus’ zu verabschieden und die Entscheidung des einzelnen für Religion oder Atheismus dem freien Spiel der Kräfte und den besseren Argumenten - bei gleichen Startbedingungen - zu überlassen.“

Die nicht nur polemisch geführten Angriffe des Moskauer Regimes gegen die Dissidenten richten sich in erster Linie gegen demokratische und religiöse Kreise. „Der schwerste Stein fällt aber immer auf die Häupter der Gläubigen“, analysierte Ternovsky die Situation der Kirche. Die Sowjetmacht sieht sich gezwungen, sich von dem Druck der Dissidentenbewegung zu befreien. Neben den nationalen sind es vor allem die religiösen Freiheitskämpfe, gegen die sie vorgeht. Die Repressalien, die sich die Kremlherren einfallen lassen, sind bekannt und haben im ganzen Osten Nachahmung gefunden. Die einfachste Methode ist es, unliebsame Kritiker einfach vor die Tür zu setzen. Ternovsky ist davon überzeugt, daß die Dissidentenbewegung dadurch nicht geschwächt worden ist: „Gerade durch diese Maßnahmen wird sie immer stärker.“

„Die Tatsache, daß der Marxismus- Leninismus heute in der Sowjetunion keine bewegende intellektuelle und moralische Kraft mehr darstellt, hat zur Folge, daß sich das allgemeine Bewußtsein der Bürger verändert“, skizzierte er einen Umdenkungsprozeß in der Bevölkerung. Auf der einen Seite wächst das Konsumdenken der jugendlichen Sowjetbürger. Ob aber auch in der Sowjetunion ein ähnlicher Massenzulauf zur Kirche wie in Polen einsetzen könnte, läßt sich in der gegenwärtigen Situation noch nicht absehen.

Was bringt die Zukunft? Viel hängt vom Erfolg oder Mißerfolg der Dissidentenbewegung ab, glaubt Temov- sky. Die Bürger der UdSSR warten jedenfalls gespannt auf die westlichen Reaktionen. Die USA und die demokratischen Staaten Europas sollten sich bei ihrer Haltung gegenüber Dissidenten nicht von außenpolitischen und wirtschaftlichen, sondern von moralischen und religiösen Überlegungen leiten lassen, meinte der Schriftsteller.

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