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Die Wahrheit ist eine wirksame Waffe

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„Ich bin der FURCHE dankbar, daß ich meine Gedanken auf diesem Wege publik machen kann“, sagte der heute in Paris lebende russische Dissident Jewgenij Ternovsky zu Styria-Verlagslektor Hans Hödl, der mit ihm in Graz em Gespräch für unser Blatt führte. Ternovsky begründete dies: „Jedes offene Wort bedeutet für meine Freunde in der Sowjetunion eine Unterstützung.“

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„Ich bin der FURCHE dankbar, daß ich meine Gedanken auf diesem Wege publik machen kann“, sagte der heute in Paris lebende russische Dissident Jewgenij Ternovsky zu Styria-Verlagslektor Hans Hödl, der mit ihm in Graz em Gespräch für unser Blatt führte. Ternovsky begründete dies: „Jedes offene Wort bedeutet für meine Freunde in der Sowjetunion eine Unterstützung.“

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Das Schicksal des Emigranten, des Dissidenten, ist für Jewgenij Ternovsky der Kampf um die Freiheit. Nicht um irgendeine Freiheit, auch nicht nur um die Freiheit in der Sowjetunion, sondern um die Freiheit aller Menschen. Ihm und den anderen, die in den Westen gekommen sind, komme dabei für die Sowjetunion eine spezielle Aufgabe zu: die Menschen im Westert über die Geschehnisse im Osten auf dem laufenden zu halten. Mit dem Archipel Gulag habe Solscheny-zin den Menschen im Westen die Augen geöffnet, auch den Mitgliedern der kommunistischen Parteien. Ternovsky sieht im Nobelpreisträger deshalb eine prophetische Gestalt, Denn: „Er hat das Gewissen des Westens wachgerüttelt!“ Und das in einer Sprache, dje auch der einfache Mann von der Straße verstehe.

Dabei sei die Rechnung der Sowjetführung mit den Emigranten nicht aufgegangen. Sie habe die Dissidenten ziehen lassen oder sie mit der Uber-legung abgeschoben, daß man die Kritiker damit los geworden sei. Daß sie sich organisieren, daß sie den Westen mit neuesten Nachrichten versorgen, ja daß in der Sowjetunion nichts mehr geschehen könne, ohne daß dies im Westen sofort bekannt würde - die Beispiele Orlov, Sacharov und Scha-ransky hätten es gezeigt -, das sei sicherlich nicht einkalkuliert gewesen. Genausowenig wie.die Wirkung auf die kommunistischen Parteien in Frankreich, Italien und Spanien, wo nach Ansicht Ternovskys der Einfluß der Kommunisten zurückgeht. Er glaubt dies daran erkennen zu können, „daß es heute bereits schwierig genug ist, beim einfachen Volk einen überzeugten Kommunisten zu finden!“

Vom Eurokommunismus als liberale Form des Kommunismus hält Ternovsky nichts. Er meint: „Ich glaube, daß alle Führer des Eurokommunismus nicht ehrlich sind, wenn sie erklären, sie seien von Moskau unabhängig! Für sie ist das eine Frage der politischen Strategie, weil sie erkannt haben, daß das sowjetische Modell beim Fußvolk der westlichen kommunistischen. Parteien keine Chance hat.“

Ternovsky ortet ein „religiöses Erwachen“ in Rußland, ein Erwachen,

Jewgenij Ternovsky ist 1941 in der Nähe von Moskau geboren. Nach dem Studium der Literatur und Philosophie arbeitete er in Moskau als Krankenpfleger und Übersetzer. 1974 verließ er die Sowjetunion und lebt seither in Paris als Journalist und Schriftsteller. Beim Grazer Styria-Verlag brachte er 1976 den Band „Nach der Dämmerung“ heraus, dem im kommenden Jahr ein weiterer folgen wird.

das alle sozialen Schichten durchziehe. Abzulesen sei dieses Phänomen am großen Interesse für Fragen der Religion und an der simplen Tatsache, daß man heute auf das Bekenntnis, ein gläubiger Mensch zu sein, nicht mehr als hoffnungslos rückständig und deplaciert angesehen werde. „Im Gegenteil: Ich glaube sogar, daß die Atheisten eine Art Respekt für die Gläubigen zeigen! Natürlich nicht die Parteifunktionäre, aber doch atheistisch herangewachsene Leute aus dem Volk.“

An diesem Gesinnungswandel habe der Kommunismus selbst entscheidenden Anteil, denn die kommunistische Doktrin sei leer, sie sei tot! „Die Leute sind von dieser Ideologie einfach enttäuscht, sie suchen nach etwas anderem, und außerdem zeigt die Geschichte des russischen Volkes, daß ein Mensch, ein menschliches Wesen, auf die Dauer nicht ohne geistige Werte leben kann!“

Parallel zu diesem Erwachen auf religiösem Gebiet schwelle die Welle der Unterdrückungen an. Besonders die Minoritäten der Baptisten, Katholiken, Lutheraner, aber auch Moslems und Juden, würden in -zunehmendem Maße verfolgt. Darum sei es für diese verfolgten Christen in der Sowjetunion besonders wichtig zu wissen, daß sie nicht ganz auf sich allein gestellt seien. Jedes offene Wort, im Westen gesprochen, komme ihnen zugute, wie übrigens auch den Dissidenten. Und diese Waffe, „die Wahrheit offen und laut zu sagen“, sei wirksamer, als man glaube.

„Was die Christen - genau wie die Dissidenten - tun, was sie erleiden müssen, das muß bekanntgemacht werden. Denn die Führung der Sowjetunion versucht den westlichen Staaten gegenüber wenigstens das Gesicht zu wahren. Sie wollen ein humaneres Gesicht zeigen, weil sie einerseits den Einfluß bei den westlichen kommunistischen Parteien zurückgewinnen wollen, und weil sich die Sowjetunion anderseits in einer schwierigen wirtschaftlichen Phase befindet, die es ihr nicht erlaubt, in eine Isolierung zu schlittern!“

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