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Produkt des Volkes?

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In Rußland und in der russischen Auslandspresse wird Solschenizyns „Archipel Gulag“ oft als das Buch des Jahrhunderts bezeichnet, wobei man darunter versteht, daß es neue Maßstäbe für die Bewertung zentraler Ereignisse der modernen Welt gesetzt hat. Seit dem Erscheinen dieses Buches ist es unmöglich geworden, vom „Sieg des Kommunismus“ zu sprechen, von der „Humanität der Sowjetmacht“, einer „historischen Notwendigkeit“ oder jener Gerechtigkeit, die ein Synonym für Kommunismus sein soll.

Den westlichen Historikern und Rußlandspezialisten, die den russi-chen Kommunismus gern aus der grauen Vorzeit der russischen Geschichte ableiten, hat dieser „Versuch einer künstlerischen Bewältigung“ gezeigt, daß der Kommunismus ein Fremdkörper in der Geschichte des Landes ist und daß das sowjetische Volk zu allererst das Opfer eines gewaltsamen sozialen Experimentes der kommunistischen Ideologie wurde. Dieses Opfer hat seine Beherrscher innerlich nicht akzeptiert; bis heute verhält es sich ihnen gegenüber voll Angst und Abscheu.

Diese Schlußfolgerung des Sol-schenizyn'schen Werkes wurde bis vor kurzem fast von niemandem bestritten. Jetzt wird sie zum ersten Mal angezweifelt, und zwar von dem brillanten Logiker, Philosophen und Schriftsteller Alexander Sinowjew.

Kein Verlangen nach Freiheit?

In der französischen Zeitschrift „L'Expreß“ erschien ein Interview mit Alexander Sinowjew, in dem der Schriftsteller, als er von den Schwierigkeiten und Problemen der Menschen in der Sowjetgesellschaft sprach, eine Alternative zur Hypothese Solschenizyns, das sowjetische Volk sei ein Opfer des kommunistischen Systems und seiner Ideologie, skizzierte.

Als Resultat seiner Beobachtung des kommunistischen Systems in der UdSSR kommt Sinowjew zu dem Schluß, der heutige sowjetische Mensch könne entweder „aktiv“ oder „passiv“ sein. Der „passive“ sowjetische Mensch ist laut Sinowjew grob, von Neid zerfressen und reizbar. Er haßt alles, was Talent hat und verhält sich feindlich gegenüber allem, was über das Mittelmaß herausragt.

Der „aktive“ Sowjetbürger ist ein Karrierist, der bereit ist bei jeder sich bietenden Gelegenheit seinen Nachbarn zu verraten. Menschen, die mit dem Regime unzufrieden sind, gibt es sehr wenige. Das sowjetische Volk identifiziert sich mit der Sowjetmacht. Es verspürt kein besonderes Verlangen nach Freiheit, weil sie eine Verpflichtung zur Verantwortung darstellt

Das Dissidententum als Phänomen ist wenig bedeutend. Die Gesellschaft zeigt Züge von Herdentrieb und Kollektivismus. Die Persönlichkeit ist zerstört. Sogar wenn es keine Unterdrückungs organe wie KGB und Miliz gäbe, würde sie die Gesellschaft in Betrieben oder Fabriken aus sich selbst produzieren, und diese „lokalen“ Unterdrückungsorgane wären noch ärger.

Das alles führt logisch zu folgenden Erwägungen: das Regime in der UdSSR wurde dem sowjetischen Volk nicht von außen aufgezwungen, es ist das Produkt von Millionen von Sowjetbürgern. Daher ist das sowjetische Volk auch nicht das Opfer des Regimes. Oder ein Opfer, das sich selbst „umerziehen“ und den neuen biologischen und psychologischen Menschentypus hervorbringen wollte, den die totalitäre Macht braucht.

Über den moralischen Niedergang, den Verlust der sittlichen Grundlagen in unserem Vaterland, haben schon viele gesprochen. Alexander

Solschenizyn sieht die Uberwindung dieses Niedergangs in der Reue, das heißt in der Erweckung des religiösen Bewußtseins. Der berühmte Prediger Pater Dmitrjj Dudko glaubt auch, daß der moralische Verfall erfolgte, weil sich die Menschen in der Sowjetunion von Glauben und Kirche losgesagt haben. Aber sowohl Solschenizyn als auch Pater Dudko bestehen darauf, daß der mehr als 60 Jahre lang dauernde Staatsterror den Menschen nicht „wiedergeboren“ hat; er hat ihn entstellt böse gemacht, verschandelt, aber nicht neu geboren, denn es ist dem Kommunismus nicht gegeben, die religiöse Natur des Menschen zu verändern.

Nach Sinowjew ist der sowjetische Mensch seit langem wiedergeboren. Der Grund dafür ist vielleicht darin zu suchen, daß in seiner Analyse der Sowjetunion die gläubigen Menschen überhaupt nicht vorkommen; übrigens fehlen nicht nur die Gläubigen, sondern auch jene, die der Sowjet-Elite mehr oder minder fern stehen.

Wie berechtigt ist etwa Sinowjews Behauptung, daß der sowjetische Mensen mit dem Regime zufrieden ist? Meint er damit, die Bevölkerung sei damit zufrieden, daß der totale Terror schwächer geworden sei und sich jetzt gegen einzelne Leute richte, die für Freiheit und eine demokratische Basis kämpfen? Dann müßte allerdings gesagt werden, daß der sowjetische Mensch mit dem Schwächerwerden des Terrors zufrieden ist und nicht mit dem Regime als solchem, wie Sinowjew behauptet.

Würden die Menschen in der Sowjetunion, wenn sie über die Möglichkeit von freien Wahlen verfügten, wirklich frei jene wählen, die heute an der Macht sind? Vielleicht; im politischen Leben braucht man Erfahrungen^ Traditionen, Informationen. In den letzten 60 Jahren wurde das alles samt den Wurzeln vernichtet. Trotzdem bin ich überzeugt, daß auch das Leben in Freiheit die Menschen verwandeln würde, ebenso wie das Leben in Knechtschaft sie verstümmelt hat.

60 Millionen getaufte Christen

Gibt es wirklich so wenige Andersdenkende, wie Sinowjew behauptet? Auch in freien Ländern ist die Zahl jener Leute, die sich der gesellschaftlichen und politischen Tätigkeit widmen, nicht sehr groß; in Anbetracht der Verhältnisse in der Sowjetunion ist die Zahl der offenen Dissidenten gar nicht so klein. Und wenn die bange Frage des Kampfes gegen sie sogar in Sonderkommissionen des Politbüros behandelt werden muß, so scheint ihre Bedeutung im Lande beträchtlich zu sein. . Ist es wirklich wahr, daß ausgerechnet die Sowjetunion keinen Bedarf an Freiheit hat? Und die 60 Millionen getaufter Christen, über die Sinowjew zu schreiben vermeidet?

Eine der strittigsten Behauptungen Sinowjews ist seine Ansicht, daß die sowjetische Elite „nichts riskiert“. Der Totalitarismus hat bisher noch niemandem eine hundertprozentige Garantie für seine persönliche Sicherheit geben können, und dies in keinem Land. Nicht einmal der obersten Elite. Und sobald diese beginnt, gegen den Strom zu schwimmen, wird sie sofort zu einem rechtlosen und verfolgten Element in der Gesellschaft

So paradox und für viele unannehmbar Sinowjews Behauptungen auch sind, seine Bücher und Auftritte sind von großer Bedeutung. Sie sprechen von der Krankheit unserer Gesellschaft, die durch nichts geheilt werden kann, außer durch ihre Offenlegung.

Aus dem Russischen übersetzt von Maria Razumovsky

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