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„Was zerstört ist, bleibt zerstört!"

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Wollen Sie die sowjeti- sche Staatsbürgerschaft wiedererlangen?

ALEXANDR SINOWJEW: Darum geht es nicht. Es handelt sich hier um eine Entscheidung Gorbatschows, die für ihn nur politische Bedeutung hat, aber keinerlei Wert für die Exilanten.

Alexandr Ginzburg sagte, „waszerstört ist, bleibt zerstört". Gilt das auch für Sie?

SINOWJEW: Ginzburg hat recht. Die jetzige Entscheidung Gorbatschows bedeutet nur, daß sich die Haltung der sowjetischen Regierung gegenüber den Dissi- denten verbessert hat. Für mich gibt es hier nur einen positiven Aspekt: für einige Verlage in der Sowjetunion wird es vielleicht eher möglich sein, meine Bücher zu veröffentlichen.

Denkt also niemand an eine Rückkehr in die Sowjetunion?

SINOWJEW: Noch nicht. Ich habe alles verloren, was ich in der Sowjetunion besaß. Meine

Ihrer Ansicht nach ist also Gorbatschow flicht zu trauen?

SINOWJEW: Es ist schwierig, hier ein bestimmtes Etikett der sowjetischen Regierung umzu- hängen. Das hat keinen Sinn. Die sowjetische Regierung und Gesellschaft sind wie ein großes Chamäleon, das ständig sein Aussehen und seine Form än- dern kann.

Welches Schicksal fällt dabei Gorbatschow zu?

SINOWJEW: Seine gegenwär- tige Position ist sehr stark, und er hat keinen ernstzunehmen- den Gegner. Es gibt zwar Boris Jelzin, aber der ist nicht so mäch- tig wie er. Die Evolution in der Sowjetunion hängt nämlich nur sehr bedingt von einer Person ab. Gorbatschow oder ein ande- rer, das macht nicht viel Unter- schied: Die UdSSR bewegt sich zu einer „Konter-Perestrojka".

Was bedeutet das? SINOWJEW: Das ist eine The- se meines neuen Buches mit dem

Freunde, meine Studenten, mei- ne Kollegen, alle haben mich im Stich gelassen. Angenommen ich würde nach Moskau zurückkeh- ren: Wie sollte ich jetzt meine ehemaligen Kollegen und Freun- de aus dieser Zeit betrachten?

Was sollte sich in der Sowjet- union ändern, damit Sie sich zu einer Rückkehr entschließen könnten?

SINOWJEW: Ich bin gegen meinen Willen vertrieben wor- den, im Unterschied zu vielen anderen, die aus persönlichen Gründen gegangen sind. Vor zwölf Jahren hat mich Leonid Breschnew zu einer äußerst schweren Strafe verurteilt, das Leben war für mich hier nicht leicht. Aber mit der Zeit habe ich mich an das Leben im We- sten gewöhnt, und ich kann mein Leben nicht noch einmal verän- dern. Meine Rückkehr wäre nur für die sowjetische Propaganda von Nutzen. Für mich wäre es nur eine neuerliche Katastrophe.

Glauben Sie nicht, daß es in der Sowjetunion unter Gorbat- schow ernsthafte Versuche zur Einführung demokratischer Strukturen und der Marktwirt- schaft kommen wird?

SINOWJEW: Das hängt nur von der politischen Fassade ab.

Was müßte sich in der Sowjet- union ändern, um den Stalinis- mus und Breschnewismus end- gültig zu beseitigen?

SINOWJEW: Das ist nicht möglich, man müßte den Kom- munismus abschaffen. Solange es ihn gibt, bleiben Stalisnismus und Breschnewismus wesentli- che Bestandteile dieses Regie- rungssystems.

Wohin geht die Sowjetunion unter Gorbatschow?

SINOWJEW: Es herrscht zur Zeit eine tiefe Krise, ein Elend. Natürlich versucht die sowjeti- sche Regierung dagegen anzu- kämpfen. Gorbatschow ist da- bei überzeugt, daß durch seine Reformen eine Besserung ein- treten wird. Das aber ist ein Irr- tum. Durch diese Reformen ge- winnt er nur die Möglichkeit eine neuerliche Diktatur zu errich- ten. Das ist sein einziges Ziel.

Titel:„Ist das das Ende der So- wjetunion?" Ich glaube nicht, ich behaupte, daß die Krise in der UdSSR die erste wirkliche Krise des Kommunistischen Systems ist. Jede Gesellschaft unterliegt gewissen Krisen, die sie aber früher oder später bewältigen wird, so wird es auch in der UdSSR sein. Die Krise der Par- teimacht, ihre Krise in der Kon- trolle der Gesellschaft werden ge- löst werden. Es gibt drei Mög- lichkeiten, diese Krise zu mei- stern: Das erste wäre die Ab- schaffung des Kommunismus, so wie es in der DDR und in Ungarn der Fall war; das zweite wäre die Einführung eines Mischsystems zwischen Sozialismus und Kapi- talismus, was Gorbatschow an- strebt. Das dritte wäre eine Kon- ter-Perestrojka, die Rückkehr zu Breschnewismus und Stalinis- mus. Diese dritte Möglichkeit wird sich meiner Ansicht nach durchsetzen. Aus Propaganda- gründen und um den Westen zu beruhigen, spielt Gorbatschow die Rolle eines Reformators, er muß aber nach innen hin etwas machen, um wieder die Ordnung im eigenen Land herzustellen.

Glauben sie also, daß sich nichts ändern wird?

SINOWJEW: Tatsache ist, daß für die UdSSR der Stalinismus und Breschnewismus zur norma- len gesellschaftlichen Ordnung gehören, so wie die kommunisti- sche Gesellschaft keine Abwei- chung der Geschichte bedeutet, sondern eine normale Entwick- lung darstellt. Sie ist keine schlechtere Gesellschaft als an- dere, im Gegenteil, sie ist sogar sehr jung und hat noch eine Zukunft vor sich. Im Westen urteilt man nach westlichen Maß- stäben, die sowjetische Gesell- schaft denkt aber anders. Ich bin sicher, daß die UdSSR in einigen Jahren aus ihrer Krise heraus- finden wird, in der sie sich ge- genwärtigbefindet. In etwa zehn Jahren wird sie alles überwun- den haben. Dann wird es immer noch den Kommunismus geben, auch wenn es Osteuropa und viel- leicht noch die baltischen Staa- ten dabei verlieren wird.

Gekürzt aus der in Turin erscheinenden Zeirung„La Stampa". Ausdem Italienischen von Josef Graisy.

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