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Solschenizyn: das Gewissen

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Alexander Solschenizyn wird am 11. Dezember 65 Jahre alt. Anlaß genug, Leben und Werk dieses außergewöhnlichen russischen Schriftstellers und Sozialkritikers ausführlich zu würdigen.

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Alexander Solschenizyn wird am 11. Dezember 65 Jahre alt. Anlaß genug, Leben und Werk dieses außergewöhnlichen russischen Schriftstellers und Sozialkritikers ausführlich zu würdigen.

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Kein Geringerer als der prominente Sowjetpoet Jewgeni Jewtu- schenko nannte Alexander Solschenizyn „unseren einzigen noch lebenden Klassiker“. Und das zu einem Zeitpunkt, da der spätere Nobelpreisträger schon lange in den literarischen Untergrund getrieben war. Es ist nicht selten, daß vom Dreigestirn der russischen Literatur, wenn schon nicht dieses Jahrhunderts so doch der Nachkriegszeit gesprochen wird: Anna Achmatowa, Boris Pasternak und Alexander Solschenizyn.

Klassifizierungen dieser Art sind stets kontrovers und umstritten. Solschenizyn selbst wehrt eher widerwillig ab, wenn man ihn aus Anlaß der Vollendung seines 65. Lebensjahres als den größten lebenden russischen Schriftsteller bezeichnet, wozu der Nobelpreis berechtigt.

Doch kann auch darüber kein Zweifel bestehen, daß dem Verfasser des „Gulag“ die größte literarische Ehrung gleichermaßen wegen seiner Fähigkeiten als Romancier und als fundamentaler Sozialkritiker seiner, der sowjetischen, Gesellschaft zuerkannt worden ist. Er ist das Gewissen der russischen Gegenwartsliteratur, eine moralische Kraft, die gegen Tyrannei, Unterdrückung und zynische Vorenthaltung der Menschenrechte gerichtet ist.

Es waren die sozialpolitischen Auswirkungen der unter der Hand kreisenden Werke, die das Regime veranlaßten, sich des Kritikers zu entledigen, wohl wissend, daß die Wirkung eines Opponenten im Sowjetreich verschwindet, wenn er ins westliche Ausland entlassen worden ist.

Die Behörden haben bei Solschenizyn das eine Ziel erreicht: Zum Unterschied von Achmatowa und Pasternak hat er die sowjetische Aufforderung zur Emigration angendmmen. Doch er lebt in der Sowjetunion weiter, dort zirkulieren seine Romane und Erzählungen in maschin- schriftlichen Vervielfältigungen und Tonbändern. Und dabei sind es am 12. Februar 1984 zehn Jahre, seit Solschenizyn seine Heimat verlassen hat.

Auch des Dichters erste in der Sowjetunion veröffentlichte Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Deni'ssowitsch“ kursiert mittlerweile als Samisdats-, also Untergrundliteratur. Der damalige Parteichef Nikita Chruschtschow selbst gebot die Veröffentlichung dieses ersten Lagerromans. Damit war vorerst der Bann gebrochen, der von Literatur- und Ideologiepäpsten über die Beschreibung von Kerker, Verfolgung und Unterdrückung in Stalins Zwangskollektivierung und Säuberung erhoben war.

Als sowjetische Publikation dieses Genres blieb der „Denisso- witsch“, eine Eintagsfliege: auch für Solschenizyn selbst. Später wurde nichts mehr von der Zensur freigegeben, was den Autorennamen dęs „lebenden Klassikers“ trug.

Solschenizyns Kritik des Sowjetsystems ist tief, die literarische Darstellung der Auswüchse des Systems ist einzigartig. Noch ein anderer kritisiert so profund, indem er die Eigenlogik des Systems sich zur Absurdität und Satire entwickeln läßt: Alexander Sinowjew, der einstige geachtete Logikprofessor an der Moskauer Universität. Doch dessen Kritik ist nihilistisch, Religiosität findet darin überhaupt keinen Platz.

Solschenizyn ist tief religiös, beseelt vom Glauben, der in der Unfreiheit geboren und gehärtet worden ist. Was immer die offene und geheime Sowjetpropaganda an Schmutz und Verleumdung gegen den Nobelpreisträger aufbietet — in einem mit KGB-Hilfe veröffentlichten westlichen Machwerk wird er zum Inbegriff des lasterhaften Heuchlers und jüdischen Ränkeschmieds — nichts ist von der tiefen Frömmigkeit des Dichters genommen.

Sein Werk in der literarischen und religiösen Tradition reflektiert das orthodoxe Verständnis von Erleuchtung, Sünde und Rettung. Aus dieser Religiosität fließt seine Überzeugung von der Rettung, d. h. Überwindung des Systems — und die Kritik am Westen.

Bei der Lektüre des massiven historischen Werkes „Der Archipel Gulag“ frappiert die Tatsache, daß ein einziger Mensch einen so vernichtenden Schlag gegen den totalitären Staat zu führen vermag, daß die Kräfte eines einzigen ausreichten, eine Materialsammlung dieses Ausmaßes, regelrechte Titanenarbeit, zu liefern. Damit hat er in seiner Gesamtheit auch den Landsleuten die Augen geöffnet, die nur über Details Bescheid wußten.

In der „Krebsstation“, Ausfluß eigener Erfahrung des an Magenkrebs erkrankten Autors, zeichnet er in der Figur des Pawel Rus- sanow das Abbild des „neuen sowjetischen Menschen“, des bis zur Karikatur verstümmelten „Homo Sovieticus“, wie er auch bei Sinowjew stehen könnte.

Tiefer liegt die Frage des Leidens und der Unterdrückung. Leiden ist nach Solschenizyn wesentlich für das individuelle spirituelle Wachstum. Er weist auf die Notwendigkeit hin, bewußt zu machen, daß der Mensch Geisteswesen ist, daß seine spirituelle Entwicklung im Vordergrund steht. Wie sagt er doch selbst: „Das Ziel menschlicher Existenz ist nicht Glück, sondern spirituelles Wachstum.“

Solschenizyn ist das klassische Beispiel des intellektuellen russischen Selbstbewußtseins, des Sozialgewissens, wie es nur in der Diktatur entstehen kann. Dermaßen vorprogrammiert wird er zum Kritiker des Westens, und zwar unter Voraussetzungen, die das System, in dem er groß geworden ist, liefert. Solchermaßen ist es nicht sein Fehler, wohl aber sein Schicksal, daß seine Stimme in der freien Gesellschaft meist ungehört verhallt.

Er sei vom Westen enttäuscht, sagt er zum letzten Osterfest in London, nachdem er seine selbstgewählte Klausur im US-Staat Vermont für kurz verlassen hatte. Er zweifelt an der Widerstandsfähigkeit des Westens gegen die sowjetischen Expansionsgelüste. Er setzt Glauben der atheistischen und nihilistischen Ideologie entgegen, aber gerade diesen Glauben vermißt er im Westen. Praktischer Materialismus sei nicht das wirksame Gegengewicht gegen die östliche Tyrannei.

Wenn die Menschen im Osten erst einmal den Leidensweg vollzogen haben, dann sind sie, wie er in London sagt, „so stark und so reif, daß sie wirklich zu unserer Hoffnung in den kommunistischen Ländern werden“.

Ex Oriente lux, aber durch den dort vorgegebenen Selbstreinigungsprozeß: „Meine größte

Hoffnung liegt bei denen, die bereits durch die schrecklichen Dekaden totalitärer Unterdrückung durchgegangen sind, überlebt haben, ohne gebrochen zu sein.“

Diese Idee ist schon im „ersten Kreis“ angeklungen. Es gibt nur die Alternative: entweder geistiger Sieg und physisches Leid, oder Untergang beziehungsweise spiritueller Tod und materieller Triumph. In Solschenizyns eigener Dialektik von Freiheit-Unfreiheit, Glück-Unglück sind es — wie paradox — die Gefangenen, die etwas vom Glück erhaschen, nicht die Privilegierten.

Am Ende vom Tag „Iwans“ steht so etwas wie Zufriedenheit. Im „Ersten Kreis“ ist es der Ingenieur Bobynin, der zum allgewaltigen Minister für Staatssicherheit Abakumow sagt: „Mir ist nichts geblieben, wirklich nichts ... aber "ein Mensch, dem sie alles genommen haben, ist ihnen schon nicht mehr unterworfen, er ist von neuem frei.“

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