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Erschütternde Prosa, durchlittenes Dokument: Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma".

Denken Sie daran, das Wichtigste: das Lager ist eine negative Schule vom ersten bis zum letzten Tag für jedermann. Ein Mensch - Chef wie Arrestant - sollte das nicht sehen. Aber wenn du es schon gesehen hast, dann mußt du die Wahrheit sagen, so schrecklich sie auch sei." Das schrieb der Schriftsteller Warlam Schalamow 1962 an Alexander Solschenizyn anlässlich dessen Veröffentlichung von "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch". Die beiden verbindet eine lebensprägende bzw. -zerstörende Erfahrung: Warlam Schalamow musste 17 Jahre in Lagern der stalinistischen Sowjetunion überleben, Solschenizyn war 1945-1953 inhaftiert. Beide schrieben später über diese Zeit. Solschenizyn wurde weltberühmt und erhielt 1970 den Nobelpreis, Schalamow wurde zunächst spärlich publiziert und übersetzt, hierzulande fast vergessen und starb 1982 in einer Moskauer Nervenheilanstalt.

Die grauenhaften Erfahrungen führten zu unterschiedlichen Poetiken, aber auch zum Bruch. Schalamow hielt den Roman des 19. Jahrhunderts für überholt und warf Solschenizyn, der ihn an seinem Projekt "Der Archipel GULAG" beteiligen wollte, Geschäftemacherei vor, Solschenizyn wiederum hielt, wie er nach Schalamows Tod zugab, nicht so viel von dessen reduzierter Literatur.

Erschöpft getreten

Mit dem ersten Zyklus von Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" begann der Matthes & Seitz Verlag nun eine deutschsprachige Werkausgabe und präsentierte mit dieser erschütternden Literatur eines der beeindruckendsten Bücher der literarischen Saison. "Wie tritt man einen Weg in unberührten Schnee?", fragt Warlam Schalamow in der ersten Erzählung "Durch den Schnee". Einer muss vorausgehen, der hat es am schwersten, dann fünf, sechs Männer, Schulter an Schulter. Jeder, "selbst der Kleinste und Schwächste", muss auf ein Stückchen unberührten Schnee treten, bis zur völligen Erschöpfung. Damit ein Weg entsteht, für Menschen, Schlittenzüge, Traktoren. Doch: "Auf Traktoren und Pferden kommen nicht die Schriftsteller, sondern die Leser."

Warlam Schalamow hat hohen Schnee in eisiger Kälte bis zur Erschöpfung ausgetreten, damit die Leser ihm folgen können, und insofern ist diese Erzählung eine Art Poetologie. Die Erzählungen sind keine reine Fiktion, aber auch keine reine Dokumentation. Er selbst nannte es "eine Prosa, die durchlitten ist wie ein Dokument". Warlam Schalamow "erzählt" darin ausschließlich von den Lebensbedingungen in den Lagern an der Kolyma, bei bis zu minus 60 Grad, mit erfrorenen Fingern und Zehen, mit 16 Stunden Arbeit und 500 Gramm Brot am Tag, mit ständigem Hunger und unter der Diktatur der Ganoven, die der Lagerleitung halfen, das Lager als Hölle zu organisieren.

Aus solcher Erfahrung gibt es nichts zu lernen, es sei denn, wie brüchig die so genannte Zivilisation, die humanistische Kultur ist. "Der inhaftierte Intellektuelle wird vom Lager ausgelöscht. Alles, was ihm teuer war, ist in den Staub getreten, und in kürzester Zeit, die sich nach Wochen bemißt, fallen Zivilisation und Kultur vom Menschen ab." "Verschrecktheit" und "gebrochenen Geist" trägt der Mensch "ins freie Leben". Schalamow wendet sich damit nicht nur gegen die Idee der stalinistischen Arbeitsbesserungslager, sondern auch gegen die humanistische Tradition, in der - wie etwa bei Dostojewski - aus Leiden gelernt werden kann, eine Tradition, die Solschenizyn weiterführte.

Unumkehrbar verändert

Man kann, man soll eigentlich nicht über das Lager schreiben, doch man muss. Aber wie? Schalamow hat nach literarischen Formen gesucht, mit denen es ihm möglich schien, Zeugnis abzulegen. Sein Essay "Über Prosa" (1965) gibt darüber Auskunft. Es geht "um die Darstellung neuer psychologischer Gesetzmäßigkeiten". Kein Tier hält diese Qualen aus, nur der Mensch, aber: "Diese Veränderungen der Psyche sind unumkehrbar wie die Erfrierungen. Das Gedächtnis schmerzt wie die erfrorene Hand beim ersten kalten Wind. Es gibt keinen Menschen, der aus der Haft zurückgekommen ist und auch nur einen einzigen Tag nicht an das Lager gedacht hätte, an die erniedrigende und schreckliche Arbeit im Lager."

Schalamows Prosa stellt in oft sehr schlichten, lakonischen Hauptsätzen das Lagerleben dar und die wesentlichen Fragen: Wie komme ich zu einem Stück Brot oder einer Dose Kondensmilch oder einer Stunde am Ofen oder einem Kleidungsstück? Die Schlusssätze haben es in sich. In der Erzählung "Auf Ehrenwort" wird einer wegen eines Wollpullovers erstochen. Der Ich-Erzähler ist Augenzeuge. Lapidar heißt es im letzten Satz: "Zum Holzsägen mußte ich mir jetzt einen anderen Partner suchen." In "Der Kant" sammeln die Häftlinge Krummholznadeln, das gilt als erholsame, leichte Arbeit. Erst gegen Ende erfährt der Leser von den erfrorenen Fingern, die solche Schmerzen verursachen, dass die Norm nicht erfüllt werden kann. Letzter Satz über das Essen am Ende des Tages: "Bei dieser leichten Arbeit stand uns ein zweiter Gang nicht zu."

Biografie verloren

Vier Jahre nach Schalamows Tod schrieb Solschenizyn: "Es stimmt, daß mich die Erzählungen Šalamovs literarisch nicht zufrieden stellten. Mir fehlten in allen Charaktere, Personen mit Vergangenheit und einem besonderen Blick auf das Leben." Genau dies macht aber das Besondere an Schalamows Prosa aus (die auch darin ungleich moderner war als die mancher Kollegen). Die Perspektive sperrt den Leser mit ins Lager ein, weil sie das Lager nicht verlässt, sie zwingt das reduzierte Denken und Fühlen auf. Völlig plausibel und folgerichtig werden meist Menschen ohne Biografie, Vergangenheit und Zukunft dargestellt, im Moment ihrer Gegenwart: des Hungers, der Erfrierungen, der Schmerzen. Die Vergangenheit der anderen interessiert ebenso wenig wie die eigene.

Solidarische Taten kommen zwar vor, sind aber weder die Regel noch heldenhaft. Der Mensch versucht durchzukommen, zu überleben wie das Krummholz im Winter, das sich duckt, bevor der erste Schnee fällt. Schalamow erzählt "das Schicksal von Märtyrern, die keine Helden waren, sein konnten und wurden". Die zahllosen vom "modischen Artikel 58" des sowjetischen Strafgesetzbuches wegen konterrevolutionärer Tätigkeit Verurteilen hielten sich für unschuldig, ihr einziges Ziel: der Erhalt des biologischen Restes von Leben, wie Michail Ryklin in einem Aufsatz präzisierte (erschienen ebenso wie Schalamows Essay "Über Prosa" oder der zitierte Brief im äußerst informativen Band "Das Lager schreiben").

Verharmlosungen duldet der Autor nicht. So lobte er zwar den "Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" von Solschenizyn in seinem Brief an diesen, doch er wies kritisch darauf hin, dass der Kater, der in Solschenizyns Text durchs Lager schleicht, in einem "echten" Lager längst gegessen worden wäre, Solschenizyn schreibe offensichtlich über ein "leichtes Lager".

Geschichte verfälscht

Warum ist das Lagerthema wichtig, auch jetzt noch? Eine Antwort darauf gab Schalamow bereits 1965: "Ist denn die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat?" Heute wird Geschichte in Russland um- und Stalin im Schulbuch zu einem der "fähigsten Führer der Sowjetunion" geschrieben: Verbreitung und Lektüre von Schalamows Prosa wären also besonders nötig. Das Gegenteil ist der Fall: Die "Erzählungen aus Kolyma" wurden aus den russischen Lehrplänen für den Literaturunterricht gestrichen.

Schalamow, der 1907 geboren wurde und Jus studierte, wurde zweimal verhaftet. 1929 zu Einzelhaft (die ihm im Rückblick geradezu paradiesisch erschien) und Lagerhaft bis 1931. 1937 wegen konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit zu fünf Jahren Arbeitsbesserungslager, wo er 1943 zu weiteren zehn Jahren verurteilt wurde. 1951 wurde er entlassen, die Rückkehr nach Moskau war ihm bis 1956 untersagt. Warlam Schalamow starb 1982, in der Nervenheilanstalt. Was er in der Erzählung "Das Paket" schrieb, galt auch für ihn: "Sie hatten sein, Innenleben' zerschlagen - an Meistern darin fehlte es nicht im Bergwerk."

Durch den Schnee

Erzählungen aus Kolyma I.

Von Warlam Schalamow. Hg. und mit e. Nachw. v. Franziska Thun-Hohenstein. Aus d. Russ. v. Gabriele Leupold

Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2007

342 Seiten, geb., € 23,50

Das Lager schreiben

Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag. Hg. v. Manfred Sapper, Volker Weichsel u. Andrea Huterer. Osteuropa Heft 6/2007. Berliner Wissenschafts-Verlag, 2007. 439 Seiten, kart., m. Audio-CD, € 24,70

Radiotipp

Die Autorin diskutiert mit Kollegen die "Erzählungen aus Kolyma" in "Österreich 1 extra" (Ö1, 5. 1. 2008, 22.05).

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