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Mit den Augen eines Russen

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Wir im Westen lasen schon viele Berichte über russische Konzentrationslager. Nur haben wir bei allen im Westen erschienenen Berichten immer einen gewissen Beigeschmack gespürt, denn meist waren die Autoren nichtrussischer Abstammung, die die russische Sprache nicht oder mangelhaft beherrschten und zwar wahr, aber nicht „russisch“ schilderten, das heißt, sie haben die letzten Feinheiten des russischen Lebens und Handelns nicht verstanden, es fehlten die I-Punkte. Die Berichte geflohener Russen dagegen trugen den nicht zu übersehenden Stempel redaktioneller Geschäftemachern, welche den ernsten Leser nicht überzeugen konnten. Meistens waren solche Bücher eine Aufzählung von Fakten. Es fehlte ihnen Fleisch und Blut, was ein Buch erst zu einem lesbaren Buch macht. Was Solschenizyn schreibt, klingt echt und läßt eigene Erfahrung durchscheinen. Das für den sowjetischen Leser Neue, Ungewohnte, Anziehende ist Solsche-nizyns knapper, kraftvoller Stil, gepaart mit einem freimütigen Gebrauch von Ausdrücken und Wendungen, die aus dem Wortschatz der zeitgenössischen russischen Literatursprache bisher verbannt waren und sich in keinem Lexikon finden. Mit einer Offenheit sondergleichen läßt Solschenizyn auch Gedanken über Gott und die Religion laut werden. Hat man etwa in einem literarischen Werk der jüngsten Vergangenheit Äußerungen lesen können wie „Ich bin doch nicht gegen Gott, verstehst du? Ich glaube gern an Gott...“?

Solschenizyn ist dabei sehr sparsam in seinen stilistischen Mitteln. Sein Held — Iwan Denissowitsch — ist für zehn Jahre ins KZ gekommen. Wir erfahren so nebenbei, daß es sogar als Glücksfall anzusehen ist, daß er nur zehn Jahre bekommen hat. Iwan geriet in die deutsche Gefangenschaft, und mit vier Gefährten gelang ihm später die Flucht. Drei seiner Kameraden kamen auf der Eucht in den Wäldern um, nur Iwan und noch einer konnten sich zu den russischen Truppen durchschlagen. Die eigenen Leute mißtrauten jedoch der Meldung von der erfolgreichen Flucht, so daß Iwan als Spion der deutschen Wehrmacht festgenommen wurde. Zermürbt von den Verhören, war er auch bereit, zu unterschreiben, daß er im Auftrag der Deutschen nach Rußland zurückgekommen sei. Da aber dem Untersuchungsrichter kein plausibles „Aüftragsthema“ einfiel, schrieb man in der Urteilsbegründung einfach „im Auftrage“ ... Dafür faßte er zehn Jahre KZ aus. Und das war noch ein Glück, denn damals bekamen alle „zehn Jahre“, später erhielten alle einfach „fünfundzwanzig“. Ein Mithäftling saß, weil er ein entflohener Insasse des deutschen KZ Buchenwald war! Die vielen nichtrussischen Mithäftlinge von Iwan Denissowitsch werden mit kurzen, kräftigen Strichen charakterisiert. Ob das nun die sympathischen zwei Esten sind, ob das ein betender (!) Westukrainer oder ein predigender Baptist ist. Es ist das Menschliche, das in diesem Buch alles überschattet, und der Schlußsatz des KZ-Häftlings Iwan Denissowitsch steigert das Werk Solsche-nizyns zu einem Epos unserer Zeit: „Da ging ein durch gar nichts getrübter, fast ein glücklicher Tag vorbei.“ Iwan Denissowitsch lebt nicht, weil er an politische Doktrinen glaubt, etwa an den Sieg des Kommunismus oder an die Gerechtigkeit der Menschheit oder an das, daß man ihn zu Hause erwartet oder gar braucht, er lebt weiter, da er weiß, daß man leben muß. Ohne Beispiel

In der bisherigen Sowjetliteratur gibt es nichts, mit dem man dieses Werk vergleichen könnte. Die Sowjets haben wohl einige talentierte Schriftsteller gehabt, die als gelehrige Schüler des 19. Jahrhunderts ihre eigenen Wege gingen, dazu gehören vor allem Jessenin, Majakowskij, Achmatowa, Pasternak und in der neueren Zeit Roschdestwenskij und Ewtuschenko. Ei waren auch einige, die mit mehr oder weniger Erfolg versuchten, sich den Großen der russischen Literatur zu nähern, wie etwa Scholochow (Stiller Don) und Leonov (Diebe). Der geheime Traum aller Russen aber blieb der Anschluß an die Großen des 19. Jahrhunderts.

Und nun geht ein bisher unbekannter Autor daran, mit seiner autobiographischen Geschichte der im „sozialistischen Realismus“ erstarrenden Sowjetliteratur neue Impulse zu verleihen. Die sich damit ergebende Frage nach der Richtung, die die neue Entwicklung nehmen wird, wird nicht leicht zu beantworten sein. Wir müssen uns in unseren Betrachtungen immer vor Augen halten, daß in der Sowjetunion die Literatur einen bedeutend größeren Faktor der Meinungsbildung abgibt als in anderen Ländern. Es gibt der Beispiele nicht wenige, in denen die Sowjetregierung sich dieses Umstandes bedient hat und die Literatur zur Beeinflussung der Massen in diesem oder jenem Sinn vorgespannt hat. Anderseits wissen wir, daß die klassische russische Literatur für äußere Einflüsse vollkommen unempfänglich war. Tolstoj und Do-stojewskij schrieben, was sie für richtig hielten, und keine Macht konnte sie zwingen, etwas anderes zu schreiben. Schließlich sind es die großen Werke der russischen Klassik, die dauerhafte Brücken zum Westen geschlagen haben, die auch in Kriegszeiten nicht einstürzten.

Die Sowjets sind der Überzeugung, daß man im Westen nur an solchen literarischen Werken interessiert ist, die dem Sowjetleben kritisch gegenüberstehen. Wenn dies auch zu einem geringen Teil zutrifft, so muß objektiverweise auch festgehalten werden, daß wahre Kunst überall begeisterte Aufnahme findet: Die Beifallsstürme, die dem großartigen Geiger Oistrach oder dem Ballett des Bolschoj-Theaters auf ihren Tourneen im Westen dargebracht werden, reden wohl eine beredte Sprache.

Für die moderne Sowjetliteratur konnte sich der Durchschnittseuropäer aber nie so richtig begeistern. Man las wohl Scholochow, man las So-schtschenko, man kennt neuerdings auch Ewtuschenko und liest mehr vor Begierde nach irgendwelchen Enthüllungen denn aus Begeisterung Pasternaks schlecht übersetzten „Doktor Schiwago“. Doch ansonsten verhält man sich dem zeitgenössischen sowjetischen Schaffen gegenüber ablehnend, da eben ein Werk ohne Lebenswahrheit, für das die Sowjets selbst den Ausdruck „lakirowka“ (Schönfärberei) geprägt haben, dem Leser keine Befriedigung verschaffen kann. Nun hat man es endlich einem Autor gestattet, mit einem Thema vor die Öffentlichkeit hinzutreten, das nach dem Leben geschrieben wurde und absolut nichts gemein hat mit den bisherigen, zumeist unglaubwürdigen Konstruktionen des „sozialistischen Realismus“.

Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß derartige Werke, in gleicher Aufrichtigkeit geschrieben, sich auch im Westen eines zunehmenden Leserkreises erfreuen werden und so wie seinerzeit die Werke eines Tolstoi oder Dostojewskij Brücken schlagen werden. Es wird hierfür, wie bei jedem Kunstwerk, nicht das jeweilige Thema das Primäre sein, sondern die Art, wie dieses Thema künstlerisch gestaltet wird.

Und hier eröffnen sich für die Ost-West-Beziehungen noch ungeahnte Perspektiven. Das ist die eigentliche Sensation...

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