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Vom Geisl der Sowjetliteratur

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Vielleicht mehr als von irgendeinem Schrifttum gilt von der Sowjetliteratur das Wort, wer den Dichter will verstehn, muß in dessen Lande gehn. Um das Wesen einer Literatur zu erfassen, die in ihrer Art und in ihrem Zweck nicht viel mit dem gemeinsam hat, was in der westlichen Welt als Dichtung gilt, heißt es, sich in die Umwelt versetzen, aus der die Werke der sowjetischen Prosa und Poesie, des Dramas und des wissenschaftlichen Schrifttums ihren Ursprung herleiten.

In der Sowjetunion hat der Schriftsteller den ihm erteilten „gesellschaftlichen Auftrag“ zu erfüllen. Er ist, wie jede Kategorie der Werktätigen, dazu verpflichtet, Befehle auszuführen, die ihm staatliche Organe, ihrerseits den Weisungen der Parteileitung gehorsam, übermitteln. Freiheit genießt e» insoweit, wie das andere Arbeiter im Rahmen ihres Schaffens beanspruchen können. Ein vorgefaßter Plan, unüberschreitbare Richtlinien setzen dem individuellen Gutdünken enge Grenzen. Theoretisch isoll der Dichter den Bedürfnissen der Massen genügen, den Forderungen nachkommen, die von seiten der Arbeiter und der Bauern an ihre Lektüre gestellt werden. Praktisch aber hat er den Lesestoff zu bieten, der gemäß der kommunistischen Parteidogmatik für eben-diese Massen der Werktätigen geeignet ist.

Das zweite Gebot sowjetischer Literatur betrifft nicht den Gegenstand, nämlich die ausschließliche Schilderung des Produktionsprozesses in allen seinen Abschattungen, sondern die Tendenz, in der er dargestellt sein muß. Der Autor hat zu zeigen, daß nur in der geplanten und von oben her durch die Partei gelenkten Gemeinschaftsarbeit das Heil der Gesamtheit beruht, neben dem das Einzelschicksal zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt. Hier haben wir nicht etwa eine Umkehrung der'objektiven Tatbestände vor uns, doch ein Postulat, das, als sittliches Begehren, beziehungsweise als Glaubensartikel keine Diskussion erlaubt.

Zum dritten, als einziger zugelassener Stil wird der sogenannte sozialistische Realismus gelehrt. Im Sinne der sowjetischen Literaturkritik heißt das soviel wie eine zwar die naturalistisch-photographische Wiedergabe, vermeidende, doch der Wirklichkeit entsprechende, sie deutende Darstellung des Seins, wobei freilich manche, wenn nicht zahlreiche Gebiete des kollektiven und des individuellen Seelenlebens, eine ganze Reihe von Phänomenen der sowjetischen Wirklichkeit von der dichterischen Schau ausgeschlossen sind. Es darf zum Beispiel nichts über religiöses Fühlen und Denken berichtet werden; das Vorhandensein einer neuen sozialen Elite, die sich allmählich auch genealogisch absondert; die gehobene Lebensart dieser Klasse erscheint in keinem Werk russischer Gegenwartsprosa. Die Personen der Staatsführung, die obersten Parteigötter können nicht anders denn von einer Aureole umstrahlt in sehr unwirklichen Geschichtsklitterungen auftreten, es sei das auf der Bühne, im Film oder in der Erzählung. Von echten Mißständen darf nicht berichtet werden, Unzulänglichkeiten sind nur dann zu melden, wenn und soweit das im gegebenen Augenblick von oben her gestattet wird.

Damit rühren wir an die vierte Haupteigenschaft der sowjetischen Literatur: ihre bewußte, gewollte Parteilichkeit, ihren stolz zugegebenen tendenziösen Charakter. Der Sowjetdichter hat sich keineswegs darum zu sorgen, daß er Licht und Schatten zutreffend verteile, daß er auch dem Feinde gerecht werde. Ihm obliegt, die Guten, also die dem kommunistischen Standpunkt Getreuen, gegen-

über den Bösen, nämlich allen andern, nicht nur als die sittlich überlegenen, sondern auch als die Klügeren darzutun.

Abgrenzung des Stoffes auf den Arbeitsprozeß in seiner Vielfalt, Einordnung des einzelnen in die ihn überhöhende Gesamtheit, sozialistischer Realismus, zielbewußte Parteilichkeit und zu dem allen ein Personenkult für die wenigen überragenden Führer, der zur sonstigen Kollektivisierung in schroffem Widerspruch steht: kann bei allen diesen Hemmnissen etwas gedeihen, das unsern westlichen Begriffen von Literatur be-achtenswürdig und rühmenswert wäre? Russische Emigranten haben anfangs, in verständlicher Verbitterung, behauptet, die Literatur sei in der Sowjetunion zu Ende und sie habe sich ins Exil geflüchtet. Seither hat man auch im Kreise der ärgsten Feinde des Sowjetregimes diese starre Leugnung alles dichterischen Vollbringens der vom kommunistischen Geist Gelenkten aufgegeben. Uns, die Außenstehenden, dünkt es ein besonderer Beweis für die poetische Begnadung des russischen Volkes und einiger der mit ihm zur Sowjetunion vereinten kleineren Nationen, daß die dem freien Flug der Inspiration verhängten Schranken Leistungen großer Worlkunst nicht verhindert haben, die in der UdSSR während des letzten Menschenalters herangereift sind.

Da drängt das bürgerliche Vorurteil der Vorurteilslosigkeit uns zunächst die Feststellung auf, daß die „gelenkte“ Literatur der UdSSR ihren Gebietern einen wichtigen Vorzug dankt: das überwinden der Verstiegenheiten und Verirrungen einer aus den Fugen geratenen Epoche der Anarchie, die dem Beginn der Sowjetliteratur verhängnisvoll hätte werden können. Ein Majakowskij, ein Esenin, die beiden genialen Lyriker der bolschewikischen Kampfepoche, durften sich die Wildheit eines dahinrasenden Wortgestammels gestatten. Doch den kleineren, ob auch gar nicht so kleinen Nachfolgern hat die Rückkehr zur Sprachzucht eines Puschkin sehr gut getan. Mit Pasternak, Tichonow, Antokolskij, Marschak, Isakowskij, Surkow, Sofronow,Kuleschow, Twardowskij, Aliger können sich Lyrik und Versepik des heutigen russischen Schrifttums wohl sehen lassen als hochbegabte Epigonen einer in die realistische Ästhetik eingebetteten spätromantischen Strömung, die aus dem Erbe Puschkins, Lermontows und Nekrasows wie aus dem Born der volkstümlichen Poesie schöpft. Der Lyriker hat es an sich schwer in diesem Lande. Dennoch hat die russische — und die tadschikische, armenische, georgische Poesie an den üblichen Themen (Aufruf zur patriotischen Tat, zum Klassenkampf, Verherrlichen der Arbeit und des Fortschritts, des Friedens, Anklage wider die „Kriegshetzer“ und „Imperialisten“) sich in ihrem wahren Dichter-tum beglaubigt und eine außerordentliche Formkunst bewiesen.

Nicht so günstig wird das Urteil über das Theater lauten. Bedeutende Regisseure und Bühnenmaler, unvergleichliche Schauspieler vergeuden Jahr für Jahr ihre Gaben an ungeschickte, mitunter kindische Propagandaleitartikel oder Lesebuchstücke, denen die Dialogform noch lange kein dramatisches Leben verleiht. Ein nichtsowjetischer Besucher der ausgezeichneten Moskauer, Leningrader, Kiewer Schauspielhäuser vermag von vornherein mit der gar nicht problematischen Problematik der aufgeführten Stücke nichts anzufangen. Da sind ain-mal die pathetischen Haupt- und Staatsaktionen aus den beiden Weltkriegen und aus dem Bürgerkrieg der preisgekrönten Pawlenko, Vischnewskij, Pogo-din, Kornejtschuk, Virta, Simonow. Eine eigene Gruppe sich häufender Thesenstücke ist der Propaganda im Kalten Krieg geweiht. Typische und in ihrer Art am besten gezimmerte Beispiele: Simo-nows „Russische Frage“ (ein edler amerikanischer Zeitungsmann kämpft um den Preis seiner Existenz für die Wahrheit über die UdSSR gegen die Verschwörung der Wallstreet-Kriegsverbrecher), Steins „Ehrengericht“ (einem Sowjetforscher soll von schurkischen Yankees seine epochale Entdeckung abgelistet werden; fast erliegt er der Versuchung. Doch die Kritik seines Freundes und die geziemende Selbstkritik lassen ihn seinen Fehltritt erkennen, ein Happy-End ist ihm, die gerechte Strafe einem gestrauchelten Kollegen, beschieden). Drittes Paradigma der jetzt gebräuchlichsten Tendenzstücke: eine Auseinandersetzung über die guten Produktionsmethoden wahrer Kommunisten, gegenüber den gefährlichen individualistischen Rechtsabweichungen ichsüchtiger, eitler und ihrem Posten nicht gewachsener Betriebsleiter. Wir haben damit den Inhalt des „Moskauer Charakters“ von Sofronow erzählt.

Den eigentlichen Ertrag der sowjetischen Gegenwartsliteratur finden wir in Roman und Novelle. Eine ununterbrochene Linie leitet da von Puschkin, Gogol, Turgenjew, LeoTolstoj, Tschechow über Gorkij zu den noch in die bolschewikische Ära hineinragenden Aleksej Tolstoj — den Schöpfer des gewaltigen „Peter I.“ —, Panteleimon Romanow, Prischwin und Olga Forsch hinüber.Michail

Solochow, der starke Epiker des „Stillen Don“, Leonid Leonow, Boris Polewoj und Boris Gorbatow, die Verfasser der künstlerisch höchststehenden Prosawerke aus dem zweiten Weltkrieg, Konstantin Fe-ciin, Valerjan Katajew und der witzige Satiriker Zoschtschenko wären als die hervorragendsten Vertreter der ersten Generation bolschewikischer Erzähler zu rühmen, sie alle ur-russische Talente, neben denen der aus jüdischem Großbürgertum stammende Ilija Ehrenburg einen allen Bemühungen um kommunistische und bodenständige Korrektheit ungeachtet durchaus westlichen, französisch gefärbten Skeptizismus verkörpert. Vielverbreitete Romane, wie Gladkows „Zement“, Aleksander Fadejews „Junge Garde“ ersticken unter der dick aufgetragenen Tendenz das Interesse, das ihre Gegenstände — der Aufbau einer Fabrik, der Widerstand junger Menschen gegen die deutsche Invasion — und den Beifall, den mannigfache Vorzüge der Gestaltung an sich weckten.

.. Doch da sind ein paar Bücher aus den letzten Jahren, ein paar sieghafte Begnadigungen, die über alles, die Schablone, die Gesinnungstüchtigkeit und die Tabus hinweg, den großen Wurf vollenden; im zweiten Weltkrieg erprobt oder während seiner Schicksalsjahre zu sich erwachsen. Voran „Der Ritter vom Goldenen Stern“ und „Licht über der Erde“ von Semen Babajewskij, „Lebendiges Wasser“ von Koschewnikow, „Daurija11 von Konstantin Sedych, .Fern von Moskau“ V.Aschajews und des Tadschiken Ajni faszinierendes „Buchara“, Trifunows „Moskauer Studenten“. Bald ist es der Reiz fernöstlicher oder nordisch-sibirischer Exotik, bald die eigenartige Schönheit eines gigantischen technischen Unterfangens, bald sind es das Nebeneinander orientalischer Märchenwelt und flammender Revolutionsvorzeichen, bald endlich das ewig-russische Ringen grübelnder junger Menschen, die nach Sinn und Zweck ihres Daseins fragen, jedesmal aber ist es ein wichtiges Anliegen, das hier den Kern eines Kunstwerks der Prosa bildet. Mögen die unbestreitbaren reichen poetischen Mittel den politischen Zweck dieser Dichtung nicht heiligen, das eine müssen wir ihm zugestehn, daß er noch immer besser ist, als Spekulation auf gemeinsten Sinnenkitzel oder auf bloße Sensationsgier.

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