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Das Problem Solschenizyn

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Man übersieht gerne, daß Bezeichnungen wie „religiöser Dichter“, „sozialistischer Dichter“ oder auch „gesellschaftskrdtischer Dichter“ nicht viel mehr als vulgäre Gunstoder Ungungstbezeigungen bedeuten. Sie erwecken, je nachdem, Sympathie oder Antipathie und sagen absolut nichts aus über den künstlerischen Rang des solcherart Charakterisierten. Es ist so, als ob man einen zum Vorzugsschüler machen oder umgekehrt durchfallen lassen wollte, bloß weil er die Sittennote eins beziehungsweise drei hat. Im Kunstbereich entscheidet aber — wenigstens sub specie aeter-nitatis — noch ausschließlicher als in anderen Lebensbereichen vor allem die Fortgangsnote. Ein Musterbeispiel: Der Lyriker Francois Villon hat Unsterblichkeit erlangt, wiewohl er wahrscheinlich ein Gauner war; vielleicht hatte er hochanständige Lyrikerkollegen, man weiß es nicht, weil sie, wenn es sie gab, verschollen sind.

Bei Alexander Solschenizyn wird dieses Problem in drastischer Weise akut, und zwar schon zum zweitenmal in bezug auf die Sowjetunion,

nämlich nach Boris Pasternak. Es steht außer Streit, daß Solschenizyn ein großer Charakter ist, das dürfte sogar Chruschtschow 1962 erkannt haben, als er die Lagererzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denis-sowitsch“ zum Druck freigab. Es ist aber umstritten, und zwar im Osten wie, vereinzelt, im Westen, ob er auch ein alles überragender Epiker ist. Die weltanschaulich motivierte Fehleinschätzung Pasternaks war weit eindeutiger: Gut zwei Jahrzehnte bereits war er über die Grenzen seiner Heimat hinaus als führender russischer Lyriker und großartiger Übersetzer ins Russische bekannt und anerkannt, auch seine menschliche Integrität war nirgends in der literarischen Welt je in Zweifel gezogen worden; aber erst als er einen antisowjetischen Sensationsroman veröffentlicht hatte, bestsellerreif und sogar drehbuchfähig, jedoch bestimmt ohne literarischen Ewigkeitswert, erst in dem kritischen Moment menschlicher Bewährung auf Kosten der künstlerischen Qualität bekam er den Nobelpreis, als Prämie für ein bloß Aufsehen erregendes Nebenwerk und arge Ungerechtigkeit gegen sein wichtigeres Hauptwerk, seine lyrischen Dichtungen und Nachdichtungen.

Liest man unter diesem Gesichtspunkt die zwei Bücher „Über Solschenizyn“, bestehend aus „Aufsätzen, Berichten, Materialien“, herausgegeben von Elisabeth Markstein und Felix Philipp Ingold und die umfängliche Biographie „Solschenizyn“ von David Burg und George Feifer, so verstärkt sich der Eindruck, daß die meisten Experten, die mit größtem Eifer für oder gegen Solschenizyn schreiben, höchstens nebenher den Sprachkünstler, in der Regel aber den Zeugen Solschenizyn meinen. Das ist um so verwunderlicher, als er doch etwas bezeugt, was wir längst gewußt und nie bezweifelt haben. Er gibt ein offenes Geheimnis preis und wurde dafür vor allem preisgekrönt, so als hätte er uns zu einer unglaublichen Entdek-kung verholten. Und doch haben wir

nie etwas anderes vom Leben dortzulande geglaubt. Erst recht waren für die Russen diese Bücher, rein inhaltlich, nichts Neues. Sowenig wie im Dritten Reich konnte in der Sowjetunion das Elend des Lagerdaseins unbekannt bleiben. Es muß das Wie gewesen sein, was 1962 die jähe Berühmtheit Solschenizyns in seiner Heimat bewirkt hat. Ganz vereinzelt wird in der vorliegenden Dokumentation „Über Solschenizyn“, von russischer Seite, auf die sprachliche Bravour des „Iwan Denisso-witsch“ hingewiesen, der auf mehreren Stilebenen konzipiert ist: in der individuellen Redeweise des Titelhelden, im dörflichen Dialekt seiner Herkunft, im Lagerjargon seiner Gegenwart und auf der sprachlichen Ebene des beinahe unterschwellig kommentierenden Autorentextes, bei welchem die „Sprachmaske“ des Häftlings sachte fallengelassen wird.

Auch aus den Übersetzungen jener Erstveröffentlichung ist die subtile Darstellungskunst spürbar, bei den Romanen später kaum noch oder höchstens stellenweise. Sind sie doch meist in Varianten und sogar Raubdrucken' dem Westen bekannt geworden, man weiß nie, wie weit diese Texte authentisch sind. Darauf scheint die Millionenleserschaft nicht

neugierig zu sein, ihr geht es um die kriminelle Sensation eines verbotenen Textes, um den Kassiber, nicht um den Tonfall. Der Autor hat wiederholt seiner Empörung über den skrupellosen Geschäftsgeist westlicher Verleger Ausdruck gegeben, die nur an ihm verdienen wollen. Er hat nachrichtenhungrige Reporter brüsk abgewiesen, auch einen der zwei Verfasser der vorliegenden Biographie, und er hat beide als „Sammler von Straßengerüchten“ bezeichnet — was auf S. 20 als Fußnote eiskalt zugegeben wird. Und auf S. 190 prangern diese den Umstand als reinen Kommerzgeist an, daß an der englischen Fassung des „Denissowitsch“ vier Übersetzer gleichzeitig gearbeitet haben, nur um das Buch schneller auf den Markt zu bringen; aber auf S. 4 wird ohne weiters angegeben, daß diese Biographie von fünf (!) Übersetzern hergestellt und von einem sechsten redigiert wurde. Kurzum, man bewundert die heroische Einsamkeit Solschenizyns, weil sie sich glänzend verkauft.

ÜBER SOLSCHENIZYN. Von Elisabeth Markstein und Felix Philipp Ingold herausgegeben. 360 Seiten. 1973 by Hermann-Luch-terhand-Verlag.

SOLSCHENIZYN. Von David Burg /George Feifer. 411 Seiten. Kindler-Verlag, München 1973.

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