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Eine moralische Weltvermessung

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Jedes Gespräch über Solschenizyn, die leidenschaftlich geführte Diskussion in Paris seit dem Erscheinen seines Buches „Die Eiche und das Kalb“, das konzentriert genau und doch spontan geschrieben von seinen Auseinandersetzungen mit den sowjetischen Behörden handelt, die zu seiner Zwangsemigration geführt haben, nimmt sogleich eine persönliche Färbung an, so als treffe sein Wort das subjektive Schicksal eines jeden. Die einen, die seine zweistündige Diskussion am Fernsehen mit Journalisten sahen, finden seine Theorien zu vereinfachend, andere widerstehen nicht der Versuchung, sie für ihre eigenen politischen Zielsetzungen auszubeuten.

Meine Freunde unter den Sozialisten, die sein Werk verehren, lehnen die Prämisse seines Weltbildes ab und werfen ihm die politische Wirklichkeitsfremdheit seiner antikommunistischen Ghettopersepktive vor, die ihm keine Einsicht gestatte in die Widersprüche und Gefahren unserer Gesellschaftsordnung, in die Solschenizyn plötzlich hineinkatapultiert worden ist. Meine Freunde unter den russischen Emigranten zeihen ihn der Anmaßung, Unduldsamkeit und Illoyalität seit seiner Polemik gegen Paul Utwinow in der Zeitschrift „W estni k“, in der er seine Angriffe gegen Sini-awski in der These zusammenfaßt: Jede Emigration sei eine Niederlage, und wer freiwillig emigriert, gibt freiwillig auf.

Dieses traurige Schauspiel der internen Auseinandersetzungen unter den emigierten Dissidenten, die ihre publizistische Plattform in der Zeitschrift „Kontinent“ gefunden haben, erinnert an die deutsche intellektuelle Emigration in Amerika während des Krieges. Damals sah sich Thomas Mann den Angriffen seiner deutschen Leidensgenossen ausgesetzt, weil er sich exponierte als Repräsentant der deutschen Kultur, als den ihn die freie Welt sah. Und dies ist Solschenizyns Situation heute im Westen.

Nur einer meiner Freunde weiß sich in Übereinstimmung mit dem Autor der ,JCrebsstation“, ein französischer Schriftsteller russischer Herkunft, der sowohl sowjetische Lager überstanden als auch vier Jahre Haft in Auschwitz überlebt hat — und in der Art, wie sich bis in die kleinsten Sprachwendungen hinein die Überlegungen Solschenizyns mit den Gedanken dieses Freundes decken, daran wurde mir deutlich, daß Solschenizyn keine politischen Werturteile auf seinen beiden Pariser Pressekonferenzen abgeben wollte, daß ästhetisch-literarische Effekte ihn gleichgültig lassen: Solschenizyn denkt, handelt und schreibt als Moralist.

Und wenn man ihn sieht, die tiefe Konzentration, wenn er zuhört, das Aufblitzen und Lächeln seiner Augen, indem er sie zusammenzieht, den erstaunten Ausdruck, wenn er einer Frage begegnet, die ihm von

seiner Weltsicht her absurd erscheint, die ihm, wie er sagt, die „normative Enge des ethischen Systems des Westens“ verrät, wer die Lebhaftigkeit seiner Gesten sieht, die Eindringlichkeit seiner Stimme vernimmt, und wenn man sich dabei erinnert, welche Authentizität bewältigtes Leid seinem Wort gegeben hat, der setzt andere Maßstäbe an seine Erklärungen zu unseren aktuellen Fragen.

Vor allem seine Äußerungen über die vietnamesische Tragödie dieser Wochen und über die Vorgänge in Portugal haben die Diskussionen in den Zeitungen belebt. Für ihn, sind die Menschen, die in Vietnam vor den Kommunisten zu fliehen versuchten, Menschen, die vor dem Kommunismus flohen. Er sagte: „In dreißig Jahren werden Sie es lesen, wie viele Menschen nach dem Sieg der Kommunisten in Vietnam in Konzentrationslagern umgekommen sind.“

Wer nicht verblendet ist, weiß das, wie jeder, der willens war, seit 25 Jahren von den Lagern hat wissen können, die Solschenizyn beschrieben hat, wie wir von den 13 Millionen Gefangenen in Maos Arbeitslagern wissen; aber wir entrüsten uns über die schreckliche Simplifizierung des Nobelpreisträgers, der kein Wort über das verrottete, korrupte System Thieus in Saigon verlor, in Wirklichkeit unser aller eigenstes schlechtes Gewissen: denn Thieu ist ein Resultat unserer

Welt, unserer westlichen Politik. Wir aber verlangen zu Unrecht von Solschenizyn, sich über die Konsequenzen unserer Welt, die er kaum kennt, zu äußern, wenn die Erfahrungen, die er uns zu vermitteln hat, die andere Seite betreffen.

In Portugal erleben wir das Experiment, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu verwirklichen, ein Experiment, das unter

Dubcek, Castro und Allende scheiterte. Was dort bewegend geschieht, was wir mit angstvoller Anteilnahme miterleben, kann nicht Sache sein des von Breschnjew vertriebenen Schriftstellers. Man nannte ihn einen Konterrevolutionär; Sol-scheriizyn bestritt das entschieden: denn er könne nicht die engagierte Gegenposition zu etwas einnehmen, an dessen Existenz er nicht glaube: die Revolution. Diese sei eine intellektuelle Konstruktion, eine historische Krücke, um eine Situation herbeizuwünschen, die nicht dem Maßstab menschlicher Gesittung entspricht.

Solschenizyn hat in Wirklichkeit weder hier in Paris noch in den letzten Monaten, seitdem er sich zu Me-'ditationen nach Montreal zurückgezogen hatte, politisch Stellung bezogen zu Vorgängen im Westen, so wie es beispielsweise Maximow provozierend getan hat. Wenn Solschenizyn unsere alltägliche Aktualität, die für uns so brennend ist, erwähnt, so tut ter dos im Maßstab einer moralischen Weltvermessung, die in unserer Tagesbezogenheit engsichtig-rückbezogen erscheinen mag, uns gleichzeitig aber mit einer Qualität der Erkenntnis menschlichen Verhaltens konfrontiert, erfahren aus persönlichem Leiden, einem Wissen von der Natur des Menschen, von der er in seinem Werk als überdauernde Konstante in den politischen Wirren und ideologischen Irrungen zeugt. Durch keine tagespolitische Herausforderung wird der russische Dichter sich beirren lassen, dieses Werk zu vollenden. Er will gar nicht recht haben, wie man ihm vorwirft; aber ich bin sicher, er wird recht behalten.

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