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„Die Wahrheit ist der Teufel“

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Alexander Solschenizyn wurde aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen. Seine letzten Bücher waren nur im westlichen Ausland veröffentlicht worden. Der Ausschluß bedeutet das Ende aller Publikationsmöglichkeiten in der Sowjetunion, möglicherweise Verbannung und Abschneidung von allen Verbindungen ins Ausland. Literarische Kategorien standen beim Ausschluß nicht zur Debatte. Unter Berufung auf Alain Jacob, den Moskauer Korrespondenten von Le Monde, zitierten die großen westlichen Zeitungen Bruchstücke aus einem Streitgespräch zwischen Solschenizyn und fünf „Kollegen“ von der lokalen Organisation des Schriftstellerverbandes. Die Verhandlung verlief streng ideologisch, die Anklagen waren ebenso formelhaft wie die Versuche der „Kollegen“, den Abtrünnigen zum Abschwören zu bringen.

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Alexander Solschenizyn wurde aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen. Seine letzten Bücher waren nur im westlichen Ausland veröffentlicht worden. Der Ausschluß bedeutet das Ende aller Publikationsmöglichkeiten in der Sowjetunion, möglicherweise Verbannung und Abschneidung von allen Verbindungen ins Ausland. Literarische Kategorien standen beim Ausschluß nicht zur Debatte. Unter Berufung auf Alain Jacob, den Moskauer Korrespondenten von Le Monde, zitierten die großen westlichen Zeitungen Bruchstücke aus einem Streitgespräch zwischen Solschenizyn und fünf „Kollegen“ von der lokalen Organisation des Schriftstellerverbandes. Die Verhandlung verlief streng ideologisch, die Anklagen waren ebenso formelhaft wie die Versuche der „Kollegen“, den Abtrünnigen zum Abschwören zu bringen.

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Wie eine Parodie auf ein schlechtes Dutzendstück über Galileo Galilei muß der Versuch des Schriftstellers Franz Taurin gewirkt haben, den Westen zu einer Art von säkularisiertem Reich des Teufels zu erheben:

Dieses Treffen ist ein Versuch, Ihnen zu helfen, sich von dem zu befreien, was der Westen Ihnen unterstellt. Der Schriftsteller Fedin hat sie mit der Autorität seines Alters beschworen: Geben Sie nach! Widersetzen Sie sich dem Westen!

Wenn Staaten, Parteien oder sonstige Organisationen dem Individuum ihre Hilfe in dieser Form antragen, wird es für das Individuum gefährlich. Die Helfer gebärdeten sich, wie alle Inquisitoren vor ihnen, als kämpften sie tatsächlich um eine Seele. Aber ihr Teufel war natürlich nicht der Westen. Der Teufel war wieder einmal die Wahrheit.

Im Grunde genommen ist die Form solcher Verhandlungen beinahe interessanter als ihr über Jahrhunderte und Kontinente hinweg stereotyper Inhalt Die Vorwürfe gegen Solschenizyn waren zeitlose Formeln,,,. der intellektuellen , Unterdrückung im Namen eingefrorene*, erstarrter Rfdölogien: „Solschenizyn11 malt alles schwarz. Sein Inneres ist schwarz“, sagte der Direktor der örtlichen Verlage. — „Beenden wir die Diskussion“, schlug ein anderer vor, „Sie leugnen die führende Rolle der Partei. Alle erkennen diese an, nur Sie nicht,"

Zeitlos der Vorwurf, sich selbst isoliert zu haben:

Solschenizyn hat an unserer Arbeit nicht teilgenommen... Er blieb unseren Veranstaltungen fern. Er hat sich von uns abgekapselt. Seine letzten Werke kennen wir nicht. Wir haben sie nicht gelesen. Aber sie stehen im Gegensatz zu dem, was wir selbst schreiben.

Zeitlos der Applaus des Opportunisten vom Dienst, der selbst nichts zu sagen weiß: „Ich stimme damit vollkommen überein. Mein Vorredner hat das treffend formuliert.“

Auch die Selbstverständlichkeit, mit der über das Individuum im Namen einer allgemeinverbindlichen Ideologie verfügt wird, ist zeitlos:

Das Sekretariat des Schriftstellerverbandes der Russischen Föderativen Sowjetrepublik wird Ihren Fall untersuchen. Das wesentliche ist, daß Sie dem Feind nicht widerstanden haben.

Alexander Solschenizyn ist den sowjetischen Lesern praktisch nur als Autor des Buches „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ bekannt. Es lag vier Jahre in den Zensurbüros herum und wurde 1962 von Chruschtschow persönlich gelesen und genehmigt. Der Tag im Leben des Iwan Denissowitsch ist ein Tag im Leben eines anonymen sowjetischen Lagerhäftlings. Solschenizyn beschrieb, was er erlebt hatte — der im Krieg als Artillerieoffizier mehrfach ausgezeichnete Mathematik- und Physiklehrer hatte in einem Feldpostbrief einige kritische Bemerkungen über Stalins Kriegsf.ührung angebracht und verschwand für acht Jahre in den Lagern, für drei weitere Jahre als Verbannter in Kasachstan.

1964 stoppte Chruschtschow die Liberalisierung, die Zauberlehrlinge bekamen Angst. Alexander Twar- dowskij, der den neuen Roman Sol- schenizyns, „Krebsstation“, in„Nowy Mir“ abdrucken wollte, bekam selbst

Schwierigkeiten. „Krebsstation“ und das nächste Buch, „Der erste Kreis der Hölle“, das in einem Spezialgefängnis für Wissenschaftler und Ingenieure spielt, kursieren in der Sowjetunion in zahllosen Abschriften.

Solschenizyn hat sich den Inquisitoren nicht gebeugt, er kam ihnen in einigen Punkten entgegen und ging in anderen zum Angriff über. Aus einigem, was er in Rjasan gesagt hat, geht hervor, daß es dem KGB gar nicht ungeiegen kommt, wenn die Werke der Verfemten im Westen gedruckt werden — das bietet den erwünschten Anlaß, sie noch gründlicher zu verfemen. Solschenizyn erklärte:

Sprechen wir über die „Kr eb s- statio n“. Im September 1967 habe ich das Sekretariat des Schriftsteller- verbandes darauf hingewiesen, daß der Roman im Lande verbreitet werde und ins Ausland gelangen könnte. Ich forderte damals, daß man ihn unverzüglich in der Zeitschrift „N owy Mi r“ veröffentlichen sollte. Das Sekretariat zog es vor, zu warten. Im Frühjahr 1966 schrieb ich an die Literaturnaja Ga- zeta, an „Le Mond e" und an die „Unit ä“, daß ich den westlichen Verlegern alle Rechte an der Veröffentlichung der „Krebsstation“ verweigere. Der Brief an „Le Monde“ wurde zurückgehalten, obwohl es ein eingeschriebener Brief UMr. Den Brief an die „Unitä“ vertraute ich dem italienischen Kritiker Vittorio Strada an. Zuerst beschlagnahmte ihn der Zoll. Dann gelang es mir doch, die Zollbeamten dazu zu bringen, den Brief zur Veröffentlichung in der „Unitä“ weiterzuschicken. Die „Unitä“ hat den Brief im Juni veröffentlicht. Die „Literaturnaja Ga- zeta“ wartete immer noch. Neun Wochen lang, vom 21. April bis zum 26. Juni, hat sie meinen Brief der Öffentlichkeit vorenthalten. Sie wartete so lange, bis die „Krebsstation“ im Westen veröffentlicht worden war. Und als dann das Buch bei Mondadori, dem Verlag in Mailand, in einer schrecklichen russischen Ausgabe erschien, da erst veröffentlichte die „Literaturnaja Gazeta“ meinen Brief und klagte mich an, ich hätte nicht energisch genug protestiert.

Der Vorsitzende fragt Solschenizyn, wieviel Redezeit ei noch benötige. Er bittet um zehn Minuten, aber nur drei werden ihm zugebilligt. Er klagt das Ministerium für Fernmeldewesen an, seine Post zurückzuhalten — kein einziger der Glückwünsche aus dem Ausland zu seinem 50. Geburtstag kam an. Er wehrt sich gegen den Vorwurf, die Wirklichkeit schwarz zu malen:

In welcher Bewußtseinstheorie ist der Reflex wichtiger als der reflektierende Gegenstand? Vielleicht in einer Philosophie der Phantastereien, bestimmt nicht im dialektischen Materialismus. Ich habe ein ruhiges Gewissen. Ich weiß, daß ich meine Aufgabe als Schriftsteller unter allen Umständen erfüllen werde, vielleicht mit mehr Erfolg und mit, ..mehr Uberzeugungskraft nach meinem Tode als während, mei-. nes Lebens. Niemand kann den Weg zur Wahrheit versperren. Ich bin bereit zu sterben, damit die Wahrheit lebe... Stimmen Sie ab, Sie sind die Mehrheit, aber vergessen Sie nicht, daß sich die Geschichte der Literatur mit dieser heutigen Sitzung befassen wird.

Solschenizyn wird mit fünf Stimmen gegen eine, seine eigene, aus der Schriftstellerorganisation von Rjasan ausgeschlossen. Wenige Tage später auch vom sowjetischen Schriftstellerv&rband in Moskau. Fedin („mit der Autorität seines Alters ...“) gibt den Anstoß. Scholo- chow („Der stille Don“) hält die Anklagerede. Solschenizyn ist abwesend. Er antwortet mit einem offenen Brief:

Die Zeit rückt heran, da ein jeder von Euch seinen Namen unter der heutigen Resolution wird wegradieren wollen ... Staubt Eure Uhren ab! Ihr seid Jahrhunderte hinter der Zeit! Reißt Eure geliebten Vorhänge auf! Ihr habt noch nicht einmal gemerkt, daß draußen der Tag dämmert ... Was würdet Ihr tun ohne „Feinde“? Ihr könntet ohne „Feinde“ nicht leben. Eure sterile Atmosphäre hat sich zu Haß verwandelt und macht nicht einmal Halt nor dem Rassenhaß... Freiheit der Rede, ehrliche, vollständige Freiheit des Ausdrucks, das ist die erste Notwendigkeit jeder gesunden Gesellschaft einschließlich der unsrigen ... Wer die Freiheit des Ausdrucks im Vaterland nicht will, der wünscht nicht, es von seinen Krankheiten zu heilen. Er will die Krankheiten nach innen drängen, wo sie fortwuchern.

Dieser Brief, in der „Neuen Zürcher Zeitung" auszugsweise abgedruckt, ist einstweilen das Letzte, was man von Alexander Solschenizyn gehört hat. Der Ausschluß aus dem Schriftstellerverband bedeutet Verlust des Schriftstellergehaltes, bedeutet Postensuche. Arbeitslose kann der Staat deportieren, wohin er will, einsetzen, wo und wofür er will. Vielleicht darf der prominente, kranke Solschenizyn ins Ausland reisen, wenn er es will.

Weitere Ausschlüsse werden wohl folgen. Dämmert draußen wirklich der Tag?

Der Granatsplitter, der am 17. März 1916 seinen Helm durchschlug, hätte dem Infanterieleutnant Guillaume Apollinaire das Leben kosten können. Drei Tage vorher war ihm die französische Staatsbürgerschaft zuerkannt worden, um die er lange gekämpft hatte. Die Ehrenlegion verweigerte man ihm, verlieh ihm aber die Croix de guerre. Acht- unddreißigjährig starb er zwei Tage vor dem Waffenstillstand am 9. November 1918 im Bett an der Grippe.

In der Pariser Nationalbibliothek ist mit einem Jahr Verspätung eine sehr intime, sehr einfühlsame Ausstellung eröffnet worden. Im vergangenen Jahr wurde so mancher Ausstellungsplan umgeworfen, Apollinaire, so meint Etienne Dennery, der Generalverwalter der Bibliothek, hätte die Verzögerung verzeihlich gefunden, sei er doch im Leben wie im Werk der Poet des Unvorhergesehenen gewesen. Apollinaire hat Frankreich mit der Feder gehuldigt, hat es mit dem Schwert verteidigt und gehört heute zu den Berühmtheiten der französischen Literatur. Sein Name ist untrennbar mit den Freunden verbunden, denen er bei der Umstürzung des alten Weltbildes assistierte: Picasso, Braque,

Derain, Juan Gris. Zu welchen Metamorphosen die Dichtung auf gleicher Ebene mit der Malerei imstande war, mit welchem Elan sie mit der Malerei Schritt halten konnte, das hat Apollinaire in der ersten Hälfte des Jahrhunderts beispielhaft bewiesen.

Im Bewußtsein der Allgemeinheit beginnt Apollinaires Karriere mit dem Kubismus, dessen Sprecher und Fürsprecher er wird. Er gehört zu „Picassos Bande“, ver kehrt auf Montmartre, im Bateau Lavoir, im Lapin Agile. Daniel- Henry Kahnweiler druckt bald sein erstes Buch „L’Enchanteur pourrissant“ mit Illustrationen von Derain als bibliophile Ausgabe, und öffnet ihm damit den Weg zu anderen Verlagen. An der imposanten Zahl von Manuskripten, Briefen, Zeitschriften, Übersetzungen, Erstausgaben seiner Bücher wird die Begeisterung spürbar, mit der er sich allen Erneuerungen in der Kunst zuwandte, sei es impulsiv oder im Bewußtsein seiner Rolle als Vorbote und Anführer. Futurismus, Orphismus, Negerkunst, Diaghi- lew und seine russischen Ballette, Surrealismus, alles findet seine Unterstützung, während er selbst mit Sprache und typographischer Anordnung experimentiert. Er entdeckt das „gezeichnete Gedicht“ und arbeitet an einem Album mit farbigen lyrischen „Ideogrammen“, das den Titel „Und auch ich bin Maler“ trägt. Immer wieder gültig ist sein Ausspruch: „Ich liebe die heutige Kunst, denn ich liebe vor allem das Licht, und alle Menschen lieben vor allem das Licht, sie haben das Feuer erfunden.“

Als er aus dem Krieg in seine Wohnung am Boulevard Saint- Germain zurückkehrt, hat die Jugend ihn bereits zu ihrem „maitre ä penser“ gemacht. Die kaum Zwanzigjährigen — Re- verdy, Eluard, Aragon, Cocteau, Soupault — lassen sich von ihm lenken: „Mehr als jeder andere Heutige hat er neue Wege gezeigt, neue Horizonte geöffnet. Er hat ein Recht auf unsere ganze Begeisterung, unsere ganze Bewunderung.“

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