Russlands Chronist der gefährlichen Wahrheit

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Selten hat in einem Menschenalter Platz, was Alexander Solschenizyn durchlebte. Der Schriftsteller, der das Sowjetregime dort traf, wo es am empfindlichsten war - und zwar bei der Lüge - dieser Mann hat in seinem 89-jährigen Leben alle Widerwärtigkeiten der Diktatur in all ihren Facetten erlebt, durchschaut und enthüllt. Schon dass Solschenizyn unmittelbar nach der Oktoberrevolution, mit der die Monarchie in das Sowjetsystem mündete, im Jahr 1918 geboren wurde, muss als Ironie der Geschichte gelten: 70 Jahre lang stand der Vater des sowjetischen Dissidententums dem Regime fortan als Antipode gegenüber. Was dieses verhüllte, wurde von Solschenizyn ans Licht gebracht. Schließlich überlebte er das System noch um zwei Jahrzehnte.

Solschenizyns unerbittlicher Kampf gegen den Kommunismus war gestützt auf ein Gewissen, das sich aus der religiösen Erziehung durch die Mutter gleichermaßen bildete wie durch die eigene Erfahrung des Unrechts. Durch ebendieses Gewissen reagierte Solschenizyn reflexartig auf systematische Verletzungen der Menschenwürde. Schließlich wird dieses innere Korrektiv zum Wegweiser und Prinzip seines Handelns: "Nie habe ich im Widerspruch mit meinem Gewissen gehandelt", sollte er später sagen.

Schon Solschenizyns Vater, der noch vor der Geburt seines Sohnes ums Leben kam, war als Zarenoffizier im Visier der Sowjets gewesen. Zweieinhalb Jahrzehnte später geriet der Sohn selbst in die Zangen des Stalin-Regimes. KGB-Schergen fangen einen Briefwechsel Solschenizyns ab, in dem von Zweifeln an der Allmacht des Generalissimus die Rede ist. Wegen "antisowjetischer Tätigkeit" wird der ausgebildete Mathematiker zu acht Jahren Haft verurteilt.

Erst nach dem Tod Stalins geht Solschenizyn 1956 frei und widmete sich verstärkt dem Schreiben und der Geschichte. In der Tauwetterperiode Nikita Chruschtschows werden seine Werke noch geduldet. In Leonid Breschnews Phase der Stagnation schlägt der Apparat wieder zu. Solschenizyn muss das Land verlassen, weil er in seinem Hauptwerk "Archipel Gulag" minutiös Stalins Terrormechanismen vor aller Welt offenlegt. Solschenizyn bezahlt dafür mit fast 30 Jahren Exil. Als er 1994 ins postsowjetische Russland zurückkehrt, findet er die Anarchie des wilden Kapitalismus vor. An einen Import westlicher Regierungsmodelle glaubt er nicht. Aus seinem moralischen Fundus schreibt er eigene Gesundungsrezepte für ein Volk, das in dieser Phase mit dem nackten Überleben beschäftigt ist und Geldentwertungen statt geistiger Erneuerung diskutiert.

Der mittlerweile über 80-jährige Solschenizyn gibt nicht auf, liefert seinen Beitrag unter anderem mit historischen Abhandlungen und stirbt Anfang dieser Woche mit der Sorge um Russlands Zukunft. Revolution, Krieg, Gulag, Krebs, KGB-Verfolgung, Exil… Kaum ein Übel, das Solschenizyn in seinem langen Leben nicht erlitten hätte.

Er selbst glaubte, dass Gott ihn trotz allen Tragödien am Leben hielt, um seinem Land beim Prozess der Selbsterkenntnis, Reue und Wiedererstarkung zu dienen. Und stellvertretend für alle Opfer vom stalinistischen Terror zu berichten. Sein Hauptwerk widmete er bezeichnenderweise "all jenen, die nicht genug Leben hatten, dies zu erzählen". Umfragen zufolge haben es 20 Prozent der Russen gelesen. Eduard Steiner/Moskau

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