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Der Preis der Feigheit ist das Böse

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Die Rede, die der russische Dichter Alexander Solschenizyn bei der Entgegennahme des Nobel-Preises halten wollte, liegt nun im Druck vor. Sie stellt ein menschliches und politisches Dokument erster Ordnung dar. Da der Literaturpreisträger des Jahres 1970 keine Ausreiseerlaubnis erhielt, konnte er nicht zur Verleihungszeremonie nach Stockholm reisen. Auch die Übergabe des Preises in einer Moskauer Privatwohnung kam nicht zustande; die Sowjetführung verweigerte dem Sekretär der Schwedischen Akademie das Visum. Bis zur Stunde sind Diplom und Medaille für Alexander Solschenizyn in Stockholm deponiert.

Aber die Welt weiß nun, was der Preisträger, der unter Stalin acht Jahre in Haft war und dessen Bücher in seiner Heimat nicht erscheinen dürfen, ihr zu sagen hat.

Kern der nicht gehaltenen Rede ist die leidenschaftliche Anklage gegen die Gewalt, die „siegreich durch die ganze Welt marschiert“, und gegen die Feigheit der Menschen, die ihr nicht entgegenwirken, auch und gerade dort nicht, wo sie die Möglichkeit hätten, es zu tun. Um ganz deutlich zu machen, wovon er spricht, greift Solschenizyn das historische Beispiel der Kapitulation der europäischen Mächte vor Hitler im Herbst 1938 auf und beschwört die Erinnerung an den Tag von München, da der britische Premierminister Chamberlain „Frieden für unsere Zeit“ gewonnen zu haben glaubte, während er in Wirklichkeit die Siegeszuversicht und den Expansionsdrang Hitlers nur bestärkt und dessen Willen zum Krieg nur befördert hatte:

„Der Geist von München gehört nicht der Vergangenheit an. Das war nur eine kurze Zeitlang so. Ich wage sogar zu behaupten, daß der Geist von München im 20. Jahrhundert überwiegt. Die verzagte zivilisierte Welt hat dem plötzlichen Ansturm der grinsenden Barbarei nichts anderes entgegengesetzt als Nachgiebigkeit und Lächeln. Der Geist von München ist die Willenskrankheit der Wohlfahrtsmenschen, der Alltagszustand jener, die sich dem Durst nach Wohlergehen um jeden Preis ergeben haben, dem materiellen Wohlstand als dem höchsten Ziel der irdischen Existenz. Die Menschen dieser Art — und es gibt viele davon in der heutigen Welt — wählen die Passivität und den Rückzug, wenn nur ihr gewohntes Leben ein bißchen weitergeht, wenn es nur heute nicht in schwere Zeiten übergeht, morgen werden wir sehen, da wird sich schon etwas finden... (Doch nichts wird sich arrangieren. Der Preis für Feigheit kann nur das Böse sein. Mut und das Vermögen, zu siegen, sind uns erst beschieden, wenn wir bereit sind, zu opfern.)“

Der älteren Generation wirft Solschenizyn vor, daß sie, und zwar gleichfalls aus Feigheit, der Jugend den Widerstand gegen ihren Weltverbesserungsanspruch und ihre utopischen Ideologien verenthalte, den sie ihr eigentlich schuldig wäre.

.....Viele Menschen, die gelebt und begriffen haben und die dieser Jugend entgegentreten könnten, sie wagen es nicht, zu widersprechen, sondern flirten sogar mit ihr, nur um nicht .konservativ' zu erscheinen.“

Solschenizyn glaubt sich verpflichtet, auch für alle anderen Schriftsteller zu sprechen, die zum Schweigen verurteilt sind, da er, als international bekannter Autor, direkt Verfolgung nicht zu befürchten habe. Wenn man freilich liest, mit welcher Schärfe er die staatliche Reglementierung der Literatur verurteilt, wie sie in kommunistischen Ländern praktiziert wird, kann man die Sorge nicht unterdrücken, sein Mut zu solcher Offenheit werde vielleicht doch weitere Sanktionen nach sich ziehen. Es heißt da:

„Die Nationen sind der Reichtum der Menschheit, ihre kollektive Persönlichkeit; noch die geringste unter ihnen hat ihre besonderen Farben und trägt in sich eine besondere Facette des göttlichen Plans ... Aber wehe der Nation, deren Literatur durch Machteingriffe unterbrochen wird — dies ist nicht nur ein Verbrechen gegen die .Druckfreiheit', das ist die Abschnürung des Herzens der Nation, das Zerschlagen ihrer Erinnerung. Die Nation hört auf, sich ihrer selbst bewußt zu sein, sie wird ihrer geistigen Einheit beraubt — und trotz der gemeinsamen Sprach? hören Landsleute auf, Landsleute zu verstehen. Stumme Generationen leben und sterben, ohne über sich zueinander oder zu der Nachwelt gesprochen zu haben.“

Die Vereinten Nationen werden mit einem Urteil bedacht, das ganz aus dem Rahmen der international üblichen Süßholzraspelei fällt, aber durch die Vorkommnisse der letzten Wochen nur erneut bestätigt wird. Solschenizyn nennt die Weltorganisation schlicht eine „unmoralische Institution“, die eigentlich „Vereinigte Regierungen“ heißen sollte, da in ihr frei gewählte Regierungen mit jenen gleichgestellt seien, die nur durch Gewalt an die Macht gelangt sind. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten kümmere sich in „eigennütziger Parteilichkeit“ lediglich um die Freiheit eines Teils der Völker, ignoriere aber die der anderen. Die Respektierung der Menschenrechte müsse zu einer bindenden Verpflichtung für alle Mitglieder werden.

Aus diesem — leider nur allzu berechtigten — Urteil spricht die Bitterkeit eines Mannes, der in der Not des Lagers, der Haft und der Isolierung auf irgend ein Zeichen der Solidarität oder gar auf die Hilfe einer Weltorganisation gehofft haben mag, die sich die Verwirklichung der Menschenrechte ausdrücklich zum Ziel gesetzt hat, und der schließlich erkennen mußte, daß er und seine Leidensgenossen ganz auf sich allein gestellt waren.

Als Solschenizyn im Frühjahr 1972 seinen „Fastenbrief“ an den Moskauer Patriarchen schrieb und der russisch-orthodoxen Kirche die Nichterfüllung ihres Wächteramtes vorwarf, horchte die Welt auf. Erstmals seit Jahrzehnten hatte sich aus dem christlichen Volk Rußlands eine Stimme erhoben, die öffentlich und mit weltweiter Resonanz auszusprechen wagte, daß die Moskauer Patriarchatskirche sich ins Schlepptau habe nehmen lassen. Eine Antwort des Patriarchen Pinien ist nicht bekannt geworden. Worin hätte sie auch bestehen können? Solschenizyn dürfte sie gar nicht erwartet haben.

Ebensowenig dürfte er freilich erwartet haben, daß ausgerechnet die Zeitschrift der schweizerischen Jesuiten, die in Zürich' erscheinende „Orientierung“, sich dazu hergeben werde, den Verfasser des „Fastenbriefs“ schulmeisterlich zurechtzuweisen, er habe seine Anklagen an die falsche Adresse gerichtet; nicht der Patriarch sei an der Ohnmacht der russischen Kirche schuld, sondern das Sowjetregime.

Nun, es ist zu vermuten, daß Sol-schenizyn über die Verfolgung der Kirchen in der Sowjetunion nicht schlechter unterrichtet ist als die Patres in Zürich. Aber er hält wohl weniger als diese von einem Pseudo-ökumenismus, der nicht zugeben mag, daß es auch in einer verfolgten Kirche (übrigens historisch begründete) Fehlhaltungen, Irrtümer und menschliche Schwachheit gibt, und er weiß, daß die einzige Möglichkeit zur Hilfe in der Mobilisierung der Weltöffentlichkeit gegen' Unterdrük-kung und Verfolgung besteht.

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