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„Talente sollen nicht massakriert werden“

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Die Proteste sowjetischer Intellektueller gegen die geistige Unfreiheit in ihrem Lande reißen nicht ab. Neuerdings richtete der berühmte russische Cellist Mstislav Rostropowitsch an vier sowjetische Zeitungen einen offenen Brief, in dem er für seinen Freund Solschenizyn eintritt und Anklage gegen die in der Sowjetunion geübte Zensur erhebt. Wir bringen den an die Chefredakteure der „Prawda“, der „Iswestija“, der „Literaturnaja Gaseta“ und der „Sowjetskaja Kultura“ gerichteten offenen Brief — dessen Text in der Sowjetunion bisher nicht veröffentlicht worden ist — im Wortlaut:

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Die Proteste sowjetischer Intellektueller gegen die geistige Unfreiheit in ihrem Lande reißen nicht ab. Neuerdings richtete der berühmte russische Cellist Mstislav Rostropowitsch an vier sowjetische Zeitungen einen offenen Brief, in dem er für seinen Freund Solschenizyn eintritt und Anklage gegen die in der Sowjetunion geübte Zensur erhebt. Wir bringen den an die Chefredakteure der „Prawda“, der „Iswestija“, der „Literaturnaja Gaseta“ und der „Sowjetskaja Kultura“ gerichteten offenen Brief — dessen Text in der Sowjetunion bisher nicht veröffentlicht worden ist — im Wortlaut:

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„Es ist kein Geheimnis, daß A. I. Solschenizyn seit einiger Zeit in meinem Hause außerhalb von Moskau lebt. Sein Ausschluß aus dem Schriftstellerverband vollzog sich vor meinen Augen — just zu der Zeit, als er intensiv an einem Roman über das Jahr 1914 arbeitete. Dann kam die Verleihung des Nobelpreises und die Pressekampagne in dieser Angelegenheit. Letztere zwingt mich, einen Brief an Sie zu richten. Ich erinnere mich und möchte auch Sie an unsere Zeitungen im Jahre 1948 erinnern, wieviel Unsinn damals über die nicht anerkannten Großen unserer Musik, S. S. Prokofjew und D. D. Scho-stakowitsch geschrieben wurde. Wenn man sich nun die Zeitungen aus jenen Jahren ansieht, so wird dies zu einer unerträglichen Schande. Weil nämlich seit drei Jahrzehnten die Oper .Katharina Ismailowa' nicht zu hören war, weil es S. Prokofjew zu seinen Lebzeiten nicht möglich war, die letzte Fassung seiner Oper .Krieg und Frieden' und die Symphonien und Konzerte für Violine und Orchester zu hören, und weil es offizielle Listen der verbotenen Werke von Schosta-kowitsch, Prokofjew, Miaskowski und Chatschaturjan gab. Kann es wirklich sein, daß die Zeit, die wir durchlebt haben, uns nicht gelehrt hat, mit Angriffen gegen begabte Menschen vorsichtig zu sein? Und nicht im Namen des ganzen Volkes zu sprechen? Und nicht Leute dazu zu zwingen, Meinungen über etwas zu äußern, das sie nicht einmal gelesen oder gehört haben? Ich entsinne mich mit Stolz, daß ich an der Zusammenkunft kultureller Persönlichkeiten im Zentralhaus der Kulturtätigen nicht teilnahm, bei der Boris Pasternak beschimpft wurde und wo man mich ersucht hatte, zu sprechen. Man hatte mir den .Auftrag' erteilt, ,Doktor Schi-wago' zu kritisieren, den ich damals noch gar nicht gelesen hatte. Im Jahre 1948 gab es Listen von verbotenen Werken. Heutzutage bevorzugt man mündliche Verbote und läßt die .Meinung' dagegen sprechen. Woher und von wem diese Meinung stammt, läßt sich nicht feststellen. Warum verbot man beispielsweise G. Wischnewskaja, den brillanten Vokalzyklus von Boris Tschai-kowski zu Worten von I. Brodski bei ihrem Moskauer Konzert aufzuführen? Warum verhinderte man mehrmals die Aufführung von Schostakowitschs Zyklus zu Worten von Sascha Tschorni (obwohl die Texte hier veröffentlicht wurden)? Warum war die Aufführung von Schostakowitschs 13. und 14. Symphonie mit eigenartigen Schwierigkeiten verbunden? Offensichtlich gab es hier wieder eine .Meinung'.. . Wem fiel die .Meinung' ein, daß Solschenizyn aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen werden sollte?

Offensichtlich hinderte diese Meinung meine Landsleute auch daran, mit Tarkowskis Film .Andrei Rubloju' bekanntzuwerden, der ins Ausland verkauft wurde und den ich glücklicherweise inmitten von hingerissenen Parisern sehen durfte. Offensichtlich verhinderte die .Meinung' auch, daß Solschenizyns ,Krebs-station' erschien, obwohl dieses Werk für den Abdruck in ,Novi Mir' bereits gesetzt war. Wäre es hier veröffentlicht worden, so hätte es zum Vorteil seines Autors und seiner Leser breit und offen diskutiert werden können.

Ich verweise weder auf die politischen noch auf die wirtschaftlichen Probleme unseres Landes. Es gibt Leute, die besser als ich in der Lage sind, sich mit diesen Angelegenheiten zu befassen. Aber erklären Sie mir bitte, wieso gerade zu unserer Literatur und Kunst so oft ausgerechnet jene Leute das letzte Wort zu sagen haben, die hierfür absolut inkompetent sind?

Ich weiß, daß nach meinem Brief auch über mich todsicher eine .Meinung' erscheinen wird, aber ich fürchte mich nicht und sage offen, was ich denke. Die Talente, die unser ganzer Stolz sind, sollten nicht im vorhinein massakriert werden. Ich kenne und liebe viele von Solschenizyns Werken und ich glaube, er hat durch Leiden das Recht verdient, die Wahrheit zu schreiben, so, wie er sie sieht. Ich sehe keinen Grund, meine Beziehung zu ihm zu verbergen, nachdem eine Kampagne gegen ihn gestartet worden ist.“

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