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Digital In Arbeit

„Autismus als Selbstverteidigung...“

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Meine kleine Sonne!

Ich setze die Beantwortung Deiner vier Briefe fort.

Ich befinde mich immer noch in der Periode der Anpassung. Wenn ich versuchen wollte, die Haltung, die ich gewählt habe, auf eine Formel zu bringen, so wäre es die von den drei kleinen Affen (in Elfenbein, erinnerst Du Dich?). „Ich höre nichts, ich sehe nichts, ich rede nichts.“ So paradox das klingen mag, die beste Form der psychologischen Selbstverteidigung scheint mir hier eine Art „von bewußtem Autismus“ zu sein. Mit meinem nach Außen gerichteten Naturell, das sich niemals auf sich selbst konzentriert, wäre das sehr kompliziert. Die Bücher, Deine Briefe und die Gedanken über das Spiel und die Probleme, die damit in Zusammenhang stehen, müssen mir hier als Hilfe dienen.

Und das ist alles, was ich über mich selbst sagen kann. Deine Briefe sind gut und richtig. Ich werde der Reihe nach antworten.

Meine Liebe!

Ich erfahre soeben, daß Du noch immer keinen meiner Briefe erhalten hast. Dies aus dem einzigen Grund, weil ich angeblich den Themenkreis des „täglichen Lebens“ verlasse.

Es fällt mir furchtbar schwer, mich auf den idiotischen Ton einzustellen: „ich bin am Leben, ich bin gesund, die Verpflegung ist gut und ich schlafe gut und wünsche Euch das gleiche . . .“ Aber ich werde versuchen, mich in diesem Brief auf dieses Spiel einzulassen.

Auf alle Fälle ist mein allgemeiner physischer Zustand normal. Ich habe sieben Bücher erhalten. Wie ich Dir bereits geschrieben habe, sind es die Bücher über das Spiel, die Psychologie und die Pädagogik und über die strukturelle Analyse, die mich am meisten interessieren. Das Buch über die Traditionen von Kiew ist sehr interessant, die anderen enthalten nur zwei oder drei Artikel, die der Mühe wert sind.

Man wird mir bald Haloperidol verabreichen. Du kannst Dir leicht vorstellen, was das ist. Ich konnte bereits die Wirkung davon beobachten ... brrr! • ■» Ir- Vi

Dimok, ich grüße Dich!

Dein Brief hat mir Freude gemacht, er ist sympathisch und klingt schon erwachsen. Ich habe von Mama mehrere Briefe be-

kommen, in denen sie von Dir spricht. Im ganzen gesehen, angenehme Neuigkeiten. Ich war sehr zufrieden, mit dem, was mir Tante Ada und Mama über Deine Aufsätze mitgeteilt haben. Es ist gut, daß Du nicht über Banalitäten schreibst. Erinnerst Du Dich an unsere Diskussionen über dieses Thema?

Ich gestehe, daß Deine mittelmäßigen Noten mich im Augenblick nicht sehr beschäftigen, denn Mama schreibt mir, daß Du jetzt eigene Interessen und eigene Ideen hast (Dein Aufsatz über die Evolution, Deine Idee über die „Gedanken-Gefühle“). Noch von Kiew habe ich Dir einen Brief zum Thema der „Gedanken-Gefühle“ geschrieben. Denn, und das ist sehr amüsant, auch ich habe mich kürzlich für dieses Problem interessiert (und ich interessiere mich noch dafür). Aber im Augenblick habe ich keine Möglichkeit, Dir diesen Brief zu schicken. Ich habe Dir auch einen anderen Brief über die Sophistik, die Gedankenwelt der Sophisten und ihre Vertreter, geschickt, und zwar im Zusammenhang mit der Tendenz, in Diskussionen Argumente der Sophisten zu benützen. Hab' keine Angst — ich will Dir hier keine Lektion erteilen — ich versuche nur, Dir die positiven und negativen Seiten der Sophisten im antiken Griechenland zu erklären und auch auf das Übel hinzuweisen, das für das Denken der Menschen heutzutage aus einer allzu großen Hinneigung zur Sophistik entstehen kann.

Am 29. Januar 1973 hat der Gerichtshof von Kiew im Fall meines Mannes Leonid Iwanowitsch Pljuschtsch ein Urteil gefällt: er wurde für unzurechnungsfähig erklärt und zu einer Zwangsbehandlung in einem psychiatrischen Sonderkrankenhaus verurteilt.

Ein medizinisches Sachverständigengutachten, unter dem Ihre Unterschrift als Präsident der

Sachverständigenkommission steht, hat diesem Urteil als Grundlage gedient.

Vielleicht wird es Ihnen unangenehm sein, diesen Brief zu lesen, aber ich versichere Ihnen, es war mir- noch peinlicher, ihn zu schreiben. Und ich bitte Sie, von ihm ohne jedes Vorurteil Kenntnis zu nehmen.

Ich darf Ihnen — objektiv gesehen — zubilligen, daß Sie in dieser Angelegenheit nicht frei entscheiden konnten. Sie waren nur der Ausführende eines von

anderen ausgearbeiteten Planes. Vom ersten Tag der Untersuchung gegen meinen Mann an, haben die Agenten des KGB alle möglichen Mittel eingesetzt, um die Aussagen der Zeugen hinsichtlich des angeblich anormalen Zustandes meines Mannes zu beeinflussen. Die Untersuchung hat nur „nachgiebige“ Zeugen aufgeboten, die wir, die Eltern und Freunde von Pljuschtsch, in den meisten Fällen zum ersten Mal in unserem Leben gesehen haben. Allerdings waren sich die Agenten des KGB, als sie gegen meinen Mann vorgingen, darüber im klaren, daß das Fehlen irgendeines verläßlichen Zeugen sie nicht daran hindern würde, Ihre Unterschrift unter die „Schlußfolgerungen“ des Sachverständigengutachtens zu setzen! Der KGB befragte mich über meinen Mann nur ein einziges Mal, und zwar zu einem Zeitpunkt, als das Sachverständigengutachten über ihn bereits in Ausarbeitung war. Der Gerichtshof untersagte mir, als Zeugin aufzutreten oder als Vertreterin meines Mannes (dem selbst nicht erlaubt worden war, den Verhandlungssaal zu betreten). Der Prozeß fand völlig unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt: man untersagte mir sogar, mich in den Gerichtssaal zu begeben. Der Gerichtshof benötigte überhaupt keine Zeugen, die Leonid Pljuschtsch kannten. Es war Ihr Sachverständigengutachten, das an die Stelle des Hauptzeugen trat.

Irren ist menschlich, aber wenn Irrtum sich als Grausamkeit erweist, dann verdient Irrtum eine andere Bezeichnung.

Es kam der Montag, der Besuch wurde bewilligt, die Verwaltung gestattete sogar, daß auch Dima seinen Vater sah. Als die Krankenwärter Leonid Pljuschtsch in den Besucherraum brachten, war dieser kaum zu erkennen: seine Augen drückten Schmerz und Erschöpfung aus; er hatte Mühe, zu sprechen, hörte inmitten eines Satzes auf, lehnte sich oft nach hinten in das Polster des Sessels, um irgendwo eine Stütze zu finden. Er unterbrach sich von Zeit zu Zeit, schloß die Augen, bemühte sich wieder, das Gespräch in Gang zu halten und auf Fragen zu antworten. Aber seine Kräfte ließen nach, setzten aus. Dann bekam Leonid Iwanowitsch einen Erstickungsanfall, er knöpfte seine Jacke mit zitternden Fingern auf, ein Krampf verzerrte sein Gesicht und verdrehte ihm Arme und Beine.

Diese Anfälle wiederholten sich

von Zeit zu Zeit, erschütterten seinen ganzen Körper, und dann sackte Pljuschtsch kraftlos über dem Tisch zusammen. Offenbar hörte er jetzt nichts mehr. Aber er versuchte, sich zusammenzunehmen; er hatte vor sich seine Frau und seinen Sohn, die von dem Schauspiel, das sich ihnen bot, zutiefst erschüttert waren. Nur mit Mühe seinen Speichel schluckend, versuchte er, zu sprechen. Aber die Krämpfe schnürten ihm die Kehle zu, blockierten seine Stimmbänder; Leonid Iwanowitsch hielt es nicht mehr aus und verlangte selbst, daß der Besuch zehn Minuten vor Ablauf der regulären Zeit abgebrochen werde.

Vom Saal Nummer neun heißt es, daß er der „schlimmste“ im Krankenhaus sei. Nach den Reaktionen von Leonid Pljuschtsch zu urteilen, ist das Regime dort einfach unerträglich.

Tatjana und Dima konnten nur in Erfahrung bringen, daß in dem Saal 26 Kranke, darunter eine Anzahl als „gewalttätig“ eingestufter aggressiver Irrer, untergebracht sind.

Der Saal, in dem die Kranken wie in einer Gefängniszelle untergebracht sind, ist stets abgesperrt. Man läßt die Kranken nur einmal am Tage zu einem einstündigen Spaziergang und „zur Inspektion“ heraus. Die neue behandelnde Ärztin, Lydia Alexejewna, scheint eine harte und gefühllose Person zu sein.

Als Frau Pljuschtsch sie fragte, welcher Behandlung ihr Mann unterzogen werde, (die Ärztin verabreicht ihm dreimal am Tage Tabletten), weigerte sie sich, diese Frage zu beantworten, indem sie sagte:

„Warum interessiert Sie das? Wir geben ihm alles, was er benötigt.“

Im Verlauf des Besuches machte Leonid Pljuschtsch seine Frau darauf aufmerksam, daß er künftig nicht mehr arbeiten, ja nicht einmal mehr schreiben könne. Er habe es versucht, aber nicht einmal die erste Seite eines Briefes zu Ende schreiben können. Auf inständige Bitten seiner Frau versprach er trotzdem, weiter Briefe zu schicken, auch wenn sie nur aus einer einzigen Zeile bestehen sollten.

Bald erfuhr man, daß sich nach diesem Besuch der Zustand Leonid Pljuschtsch' verschlechtert habe: ständig schüttelten ihn Krämpfe, er stehe plötzlich auf, strecke sich, Arme und Beine zuckten, sein ganzer Körper krümme sich, er könne keine Ruhe finden und in der Nacht nicht schlafen.

Es vergingen zwei Wochen, in denen seine Frau nur einen ein- . zigen kurzen Brief erhielt, wie er es versprochen hatte.

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