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MODERNE LITERATUR - EIN ERLEBNIS

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Wenn ein junger Mensch Gedanken über moderne Literatur spinnt, dann ist es kaum verwunderlich, daß er sich zuerst ihrer provokanten Variante widmet, die doch so zutreffend sein vielleicht noch nicht gefestigtes Ego personifiziert und ins Poetische überhöht. Nennen wir der Einfachheit halber besagten Bibliomanen kurz „junger Leser“; alles, was also hier laut werden wird, ist ausschließlich von dieser Warte aus betrachtet und schon deshalb rein subjektiv.

Als junger Leser stößt man sehr oft auf literarische Sensationen, die natürlich allgemein betrachtet längst keine mehr sind, vom persönlichen Erfahrungsbereich gesehen jedoch augenfällige Überraschungen bieten. Man kommt beispielsweise einem epochemachenden Werk auf die Spur; für mich selbst ist es neu und künstlerisch hochaktuell, genauso wie für jene, die es seinerzeit gleich nach seinem Erscheinen in die Hand bekommen haben. Mag das auch vierzig Jahre und mehr her sein. Es erweitert den geistigen Horizont beträchtlich, neue und bis dahin ungeahnte Impulse durch strömen und enervieren den jungen Leser nach der Lektüre eines solchen schrittmachenden Werkes. Die Einstellung zum Wesentlichen des Lebens kann revidiert, zumindest stark beeinflußt werden. Prinzipien f allen, neue drängen nach und werden vorläufig annektiert, Probleme der Existenz gestalten sich vielschichtiger als bislang.

Voraussetzung zum Bibliomanentum ist eine angeborene Liebe zur Kunst, insbesondere zur Dichtung, ein aufgeschlossenes „Kosmopolitenherz“ sowie ein heller und wachsamer Verstand, der wohl oder übel „überregional“ orientiert sein sollte.

Zurück zur provokanten Variante. Ihr steht man als junger Leser animiert-positiv gegenüber. Man sudht den Anstoß, sucht eigenen Anstoß, der sich meist — intellektuell gesehen

— auf dem Gerüst der Vorgänger etabliert. Allerdings kann man die „metaphysische Not des Menschen unserer Zeit“ nicht einseitig erfassen. Der Weg zur Formulierung dieser Not führt nicht nur über provokanten Realismus.

Gleichwohl, trotz allem beschäftigt diese literarische Spielart den jungen Leser mehr als jede andere. Oft neigt diese

Gattung in ihrer Grundtendenz zum Negativismus und nicht selten sogar zu bedenklicher Sinnentleerung konventioneller Wertvorstellungen. Das macht sie aber künstlerisch um nichts schlechter als verlogen-seichte Schönmalerei. Vielleicht ist sie dem Leser gegenüber um ein Jota ehrlicher. Ist es nicht Zweck jeder „engagierten Dichtung“, dem Publikum Nutzen, Einsicht und Anregung zu vermitteln? So ist Literatur ein ewiger Motor, der Ansichten auffrischt, Schlußfolgerungen umschichtet, elementare Aspekte neu artikuliert. Die provokante Variante kann demnach sehr befruchtend wirken. Nicht zuletzt deshalb, weil sie eine zwar anfechtbare, aber verbindliche und ehrliche Stellung einnimmt.

Im folgenden eine flüchtige Auswahl jener Autoren, die unumstritten als engagiert-provokant gelten: Montaigne, Cendrars, H. Miller, Brecht, Gide, Mailer, K. H. Deschner, Borchert, Spinozia, Camus, Sartre, Greene, Osborne, Nietzsche Pavese, Cėline, Heidegger, Pascal, Rimbaud, Emerson, Pėguy, Bernanos, Elisabeth Langgässer, Malraux, Kierkegaard, Ibsen, Montesquieu oder Tucholsky.

Der spanische Philosoph Ortega y Gasset hat sich mit der Wirkung der modernen Kunst auf die Massen (lin „Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst“) beschäftigt. Er spricht von ausgeschöpften Formen, die zum Beispiel sehr stark den Roman betreffen. Mit Kafka und Joyce nimmt man zugleich Höhepunkt und Rückbildung dieses Genres wahr.

Auch den jungen Leser bewegen diese Probleme, denn gerade er sucht ständig nach Neuem, nach Rarität und Avantgarde. Ortega ist der Ansicht, bestimmte künstlerische Ausdrucksformen ließen sich abwandeln, auslegen, experimentell handhaben, aber nicht mehr strukturell auffrischen oder gar reaktivieren. Ein Roman bleibt ein Roman, mag er artistisch noch so gekonnt verwirklicht worden sein, gleichwie eine Hose grundsätzlich eine Hose bleibt, ob man nun Bügelfalten oder Stulpen anbringt. Die Loslösung von traditionellen Formen scheint also Gebot der Stunde zu sein. Wir leben momentan in einer Ära literarischer Flaute. Keine Bewegung, kein gemeinsames Ringen um Ausdruck und Gebärde ist in Sicht. Ein gähnendes Vakuum läßt uns derzeit nur zwei Möglichkeiten offen: nach Neuem suchen oder im Alten verharren.

Es taucht nun die Frage nach dem „Wie?“ fortschrittlicher Literatur auf. Der Zug der Zeit verlangt nach der kurzftn, aber treffsicheren Form, nach Reduzierung der stilistischen Kommunikation und nach äußerster Prägnanz. Was den Roman betrifft, so ist es denkbar, daß er an seiner Wesensart verendet und jämmerlich zugrunde geht, oder daß er eine Wiederbelebung vom „inneren Monolog“ ausgehend erfährt. Hier spielt nicht so sehr die Thematik — die im modernen Roman immer wieder auf Selbstanalyse und Verdinglichung transzendentaler Vorgänge im seelisch-geistigen Erlebnissektor abzielt — eine ausschlaggebende Rolle, sondern weit intensiver das Mittel der Durchführung. Ob der Roman der Zukunft die Fesseln seiner schöpferischen Beengtheit abstreifen können wird, um einer absoluten Freiheit des Ausdrucks zu huldigen, bleibe dahingestellt. Eine Freiheit im Sinne Whitmans oder Joyces ist jedoch kaum noch vorstellbar.

Zwei moderne Autoren der Gegenwart scheinen protago- nistisch für das zu sein, was schließlich zutage treten wird: ein Modulieren des Gegenwärtigen. Der Deutsche Böll und der Amerikaner Jerome D. Salinger bieten wohl eine fundierte Grundlage, auf der man weiter Wahres und Starkes auf bauen könnte. Zwar stammt der Satz, daß jeder Autor im Grunde genommen nur ein Thema habe, das er sein Leben lang variiere und anders sehe, nicht von Böll, trifft aber auf ihn in besonderem Maße zu. Die entsetzliche Drangsal des Infernos „Krieg“ kehrt in allen seinen Werken wieder. Und Salinger bringt die Einfühlung in die wichtigen, unter die Haut gehenden Probleme des Menschen unserer Tage mit. Er hat etwas, das vielen Schriftstellern moderner Provenienz abgeht: unbetonte Würde und unterspielte

Autorität, die jeder Einzelgänger ausstrahlt. Er liebt die irregeleitete Kreatur — wie Böll — und er ist also auch Moralist, jedoch ohne erhobenem Zeigefinger oder wütendem Unbehagen auf der Zunge. Böll und Salinger kann man wohl kaum als Repräsentanten neuer Wege ansprechen, aber unbedingt als Dichter, die sich ihrer vornehmsten Aufgabe bewußt sein wollen: den Menschen behutsam zu läutern und ihn doch zufrieden zu lassen nach seiner Fasson.

Wenn man nach künftiger Prosa orakelt, muß man fraglos die österreichische Literatur miteinbeziehen. Denken wir an Robert Musil, dessen Ulrich aus den „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ ein treffliches Beispiel des im heutigen Roman so oft agierenden „negativen Helden“ darstellt. Auf dem Gebiete der Pflege und Säuberung der Sprache ist wohl Karl Kraus dominant. Dieser leidenschaftliche Analytiker und aufrechte Kämpfer gegen die Pervertierung der Sprache darf nicht vergessen werden. Von den noch lebenden Dichtem wäre sicherlich Heimito von Doderer ins Treffen zu führen, hat der Meister in seinen renommierten Werken doch stets deutlich „österreichisch“-skurril und „öster- reichisch“-tragisch zu erkennen gegeben, was er unter Literatur versteht.

Auch verhältnismäßig Jüngere haben sich bereits bewährt. Habeck, Thomas Bernhard, Peter von Tramin und andere wissen genau — jeder auf seine Weise —, was ihre Passion ihnen diktiert, künstlerisch integer zu formen.

Echter und wahrer Genuß in der Nutzanwendung von Literatur wird nur durch sorgfältige Auswahl des Lesestoffes und durch ein Gutteil persönlicher Initiative (Beschaffung eines seltenen, vergriffenen Werkes) sowie durch Selbstzucht (in Form von stetiger Höhersetzung des Leseniveaus) erreicht.

Außerdem ist noch etwas vonnöten. Nämlich die Manie für das geschriebene Wort schlechthin. Man kann sicherlich durch enttäuschende Lektüre Rückschläge erleiden, muß aber insoweit Rückgrat besitzen, daß man dem guten Buch nicht ein für allemal abtrünnig wird. Das Bekenntnis eines eingefleischten Bibliomanen müßte in den Ausruf „Ich kann nicht leben ohne ein Buch!“' münden. Das ist potentielle Bibliomanie, wie sie nur in der Jugend vorhanden ist und gefördert werden sollte.

Am Beispiel von Thomas Wolfe, dieses literaturbesessenen Dichtergiganten, erkennen wir deutlich, was Enthusiasmus jungen Geistes zu leisten imstande ist. Die Schaffenskraft eines solchen Menschen schenkt uns Lesern zutiefst auf die persönliche Sphäre einwirkende Erlebnisse und Erkenntnisse. Die Literatur als mittelbares Erlebnis ist selbst in einer so raschlebigen und zu Mittelmäßigkeit neigenden Zeit eines der erstrebenswertesten Ziele, die es für einen geistigen Menschen gibt.

Das lehrt uns nicht die leider immer mehr schwindende Popularität anspruchsvoller Literatur, sondern einzig und allein ihre unvermindert stimulierende Wirkung auf jeden, der sie zu pflegen und zu schätzen weiß.

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