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Uberleben, um welchen Preis?

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DIE MITTLEREN JAHRE. Roman. Von Helm Fiontek. Verlag Hoff mann und Campe, Hamburg, 1967. 301 Selten. DM 19.80

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DIE MITTLEREN JAHRE. Roman. Von Helm Fiontek. Verlag Hoff mann und Campe, Hamburg, 1967. 301 Selten. DM 19.80

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Wenn heute ein literarisches Ereignis verkündet wird, ist man eher skeptisch. Was jedoch den angekündigten neuesten Roman, den ersten aus der Feder Heinz Pionteks, angeht, so gilt es diesmal, die Ankündigung ernst und wörtlich zu nehmen. Man kann ihn wirklich nicht anders als ein literarisches Ereignis nennen. Piontek war bis jetzt als Lyriker bekannt und als Autor kleiner Erzählungen. Beides hat ihm den Namen „Klassiker der jungen Generation“ eingebracht. Nun wird im Frühjahr sein erster Roman in den Schaufenstern liegen. Diesmal muß man also genauer hinsehen. Die Diskussionen um den heutigen Roman, ob und wie er überhaupt möglich ist, wollen nicht abreißen. Das gelungene Werk jedoch erledigt das Problem. Jeder Autor bestimmt neu, was ein (sein) Kunstwerk ist, meint einmal Gütersloh.

Am liebsten möchten wir wiederholen, was in dieser Zeitung zu den letzten Arbeiten Pionteks geschrieben wurde („Furche“ vom 8. Februar 1966 und vom 29. Oktober 1966), „Kastanien aus dem Feuer“ und „Klartext“. Dort ist alles gesagt. Das in jenen Erzählungen und Gedichten bewiesene Formkönnen wurde hier einen ganzen Roman lang durchgehalten. Es gibt keine tote, keine flüchtige oder nur verbindende Stelle. Ein Höchstmaß an konzentrierter Form aus genauer Beobachtung, prüfendem und wägendem Verantwortungsbewußtsein und dichterischer Umsetzung ins Bild. An die Stelle von überflüssigen poetisieren-den Amplifikationen tritt aus einer zum Wesentlichen führenden meditativen Versenkung das gestaltete „Inbild“ einer Landschaft, eines Menschen, einer Situation. Nichts wird beschrieben; alles ist durch sich selbst da, fordert Piontek selbst von der Dichtung. Mit Pionteks Roman scheint ein wirklich moderner Roman gelungen zu sein, dessen Möglichkeiten in die Zukunft weisen. An seiner Hand könnte ein Seminar über moderne Dichtung geführt werden. „Vollkommen künstlich“, sofern man darunter moderne Stilqualitäten versteht, „vollkommen natürlich“, insofern es sich nicht um gewaltsam angestrebte Absichten handelt, sondern um die gegebene Situation. Kein bloß virtuoser Kunstgriff, keine Ausflucht zu alusgefallener Exotik weicht die Konturen auf. Modernität ist nicht Ausrede oder Täuschung, nicht Kleid oder Maske, nicht erklügelt und erdacht, sondern authentischer Erfahrung der Gegenwart abgewonnene Form, in der sich der heutige Mensch selbst verwirklicht und mit der er nach dem Sinngrund seiner Existenz in seiner Sprache greift. Überleben und weiterleben, wer wollte das nicht, „ja, aber um welchen Preis?“ Diese Frage stellt der Romanheld einem seiner Freunde, der auch mit der Dichtung begonnen hatte und um des Uberlebens willen im Geschäft gelandet war. Sammeln von Eindrücken, Registrieren vom Außen der Zeit und ihrer Welt, Registrieren vom Innen des Unterbewußten, und sie nur zum Ausdruck bringen, auch das genügt nicht. „Erst Erfahrungen führen in Höhenluft.“ Das ist allerdings mühsamer als gelerntes und gekonntes Fliesenlegen. Techniken, auch ästhetische, haben im Gehorchen und nicht im Geist zu sein, damit „der Hand schöneres Zögern prange“, meint einmal Rilke. Der Künstler hat die Pflicht, sich dem Zögem, auch dem Mißerfolg und „dem Unglück auszusetzen“. So offenbart der Roman, aus welchem „Bewußtseinsniveau“ (Musil) er seine formalen Qualitäten bezieht. Es geht um „Klärung der Positionen, die der Zeitgenosse im Poeten absteckt“, äußerte ein Kritiker zu Pionteks Dichtung. Piontek bemüht sich mit schönem Zögern zu klären, in Nachdenklichkeit, Behutsamkeit, „melancholischer Grazie“. Daraus ersteht die Trefflichkeit und Betroffenheit seiner anschaulichen Formulierungen, seiner in Auge und Herz fallenden Bild-haftigkeit.

Hier lauern natürlich ein Mißverständnis und eine Gefahr, in jene engagierte Dichtung zu geraten, die im Sinne einer Ideologie, einer Philosophie oder eines Glaubens Propaganda schreibt. Doch der Roman widersteht der Versuchung, ja läßt sie nicht einmal an sich herankommen. Wohl lautet die Frage, die der Romanheld auch sich selbst vorlegt, „um welchen Preis überleben“, wozu hat er die russische Kriegsnacht überstanden, wozu lebt er im Wirtschaftswunder Münchens, was soll aus seiner in die Krise geratenen Ehe, was aus seiner Tochter werden, kann das alles mit Dichtung bewältigt werden, „soll denn das nichts gewesen sein, was unser Leben ausmacht? Was zählt?“ Doch Größe und Stärke liegt hier mehr in den mit Ernst gestellten Fragen als in gelieferten Antworten. Nach siebenjähriger Abwesenheit war er an die Stätte seiner „besten Jahre“ zurückgekehrt, durchwandert die aus Ruinen erwachende Stadt, sieht seine alten Freunde, das Gymnasium seiner ersten Lehrjahre, den Wohnort der glücklichen Ehe, aber erlebt auch das Abbröckeln der Kräfte, erlebt die Tragik, daß auch die glücklichsten Stunden und höchsten Gipfel nicht bleiben. Die Leidenschaft zu einer jungen Frau schien ihm neue Zukunft versprochen zu haben; auch sie war verlöscht. Die Freundin war darüber zugrunde gegangen, seine mühsam aufrechterhaltene Ehe löste der Tod; es blieb die kleine Tochter, von Freunden aufgezogen, jetzt zu ihrem Vater findend und er zu ihr. „Nicht vergessen, sondern er-innern“, lautet sein Grund-Satz, nicht aus Prinzip, nicht als Parole gesprochen; ihre Sprache wäre platt und wenn sie sich noch so hochgestochen gibt, sondern aus einfacher Menschlichkeit, die aus ihrer Stummheit zum Wort findet: „buchstabierend, mit einer Stimme, die stockt; mit einer Rechnung, die nicht aufgeht; aber von einigen tapferen Selbstlauten nicht hinters Licht geführt“.

Man weiß nicht, soll man das Werk einen Zeitroman, einen Eheroman, einen Bildungsroman usw. nennen, er ist das alles und doch auch wieder nicht, weil er tiefer greift: in die allzu menschliche Situation der „mittleren Jahre“ zwischen 40 und 50, in denen ein Dichter, ein Liebender, ein Zeitgenosse nach dem Abklingen jugendlicher Unternehmungen, nach Krieg und Wirtschaftswunder, in stellvertretender Meditation rekapituliert, was soll das Dichten, das Lieben, das Leben? Die Fragen erscheinen nicht getrennt, sondern wachsen in konzentrischen Kreisen aus einem Mittelpunkt. Dichtung erweist sich hier als die eigentliche menschliche Wirklichkeit, menschliche Existenz in der Sprache, „die senkrecht steht auf der Richtung vergehender Herzen“ (Rilke), wie es etwa in freier Abwandlung, dem Sinn nach, auch mit Versen Trakls ausgesprochen werden könnte: Schön ist der Mensch und erscheinend im Dunkel, wenn er sein fremdes Schicksal bewegt, und eine sanfte Flamme im Herzen spricht: o Mensch. Dafür lohnt es sich, als Künstler und als Mensch, zu überleben.

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