Einer, der aus der Hölle zurückkehrte

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Der Mensch merkt sich das Schöne und Gute besser und vergisst das Schlechte leichter. Schlechte Erinnerungen bedrücken, und die Kunst zu leben, falls es sie gibt -ist im Grunde die Kunst zu vergessen." Derart unprätentiös und scheinbar wider den Zeitgeist aller Gedenkkultur setzt "Über die Kolyma", die aus dem Nachlass zusammengestellte Sammlung verstreuter Texte von Warlam Schalamow, ein.

Anders als Alexander Solschenizyn, der den Begriff "Gulag" mit seinem dokumentarischen Großessay "Archipel Gulag" zum Inbegriff des sowjetischen Terrorsystems machte, gilt Warlam Schalamow im heutigen Russland als der Schriftsteller der Kolyma. Kolyma als Synonym für die Verbrechen des Stalinismus. Schriftsteller bedeutet in diesem Zusammenhang keineswegs naive Verharmlosung der Täter oder krude Ästhetisierung der Opfer zu Literatur -selbstverständlich fand auch in Russland eine Diskussion statt, die dem Disput um Adornos Überlegungen über die Möglichkeit, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, vergleichbar war. Unter anderem wurde sie zwischen diesen beiden genannten Autoren geführt: Solschenizyn konzedierte Schalamow, dem Verfasser von Lagererzählungen, die im Samisdat kursierten, auf Kolyma viel schlimmere Lager als er selbst er- und überlebt zu haben. Seiner Aufforderung aber, gemeinsam eine Abrechnung mit dem ganzen kommunistischen Lagersystem zu verfassen, kam Schalamow nicht nach. Die ästhetischen Auffassungen über einen "Versuch der künstlerischen Verarbeitung" der 20 Millionen Toten des Stalin-Regimes, wie ihn Solschenizyn schließlich mit dem "Archipel" unternahm, waren zu divergent. Warlam Schalamow schrieb seinerseits die "Erzählungen aus Kolyma".

Die Sprache der Gefangenschaft

In vier Bänden und auf knapp zweitausend Seiten liegen sie mittlerweile in einer sorgfältig kommentierten Ausgabe des Berliner Matthes &Seitz Verlages in Übersetzung vor. Nebenbei bemerkt, handelt es sich hier um eines der spektakulärsten und schönsten Editionsprojekte eines deutschsprachigen Verlages in jüngerer Zeit. "Über die Kolyma. Erinnerungen" ist eine Art Ergänzung zu den Erzählungen, gleichsam die private und persönliche Sicht des Autors, der sich an die Arbeit macht, seine Erlebnisse in der Hölle in Literatur umzuformen. Dass ihm das nicht leichtfällt, wird in kursorischen Überlegungen über die "Unvollkommenheit des Instruments, das sich Gedächtnis nennt", sogleich festgehalten. Während der Haft war das eigene Denken äußerst eingeschränkt, ausschließlich auf das Überleben ausgerichtet -welche Sprache, fragt Schalamow, gilt es nun für die Beschreibung von Gefängnis und Lager zu wählen? Sogleich zerfällt dem Autor, der vierzehn Jahre in Unfreiheit überlebte, der Gegenstand -er selbst: "Wie das Gesetz des Verfalls herleiten? Das Gesetz des Widerstands gegen den Verfall? Wie davon erzählen, dass nur die Religiösen eine vergleichsweise aufrechte Gruppe waren? Da sich die Parteimitglieder und Geistesarbeiter schneller demoralisieren ließen als andere?"

Im äußersten Nordosten Russlands

Damit sind drei wichtige Momente in der Biographie des Warlam Schalamow angesprochen: Im nordrussischen Wologda 1907 als Sohn eines orthodoxen Priesters und einer Lehrerin geboren, beginnt Schalamow 1926 in Moskau ein Jurastudium. Zweiundzwanzigjährig wird der mittlerweile bekennende Trotzkist im Jahr 1929, dem Jahr von Stalins "großem Umbruch", erstmals verhaftet - wegen Verbreitung von Lenins sogenanntem "Testament", in dem vor Stalins Machtambitionen gewarnt wurde. Im Umfeld der Konstruktivisten unternimmt Schalamow erste Schreibversuche -seine erste Erzählung wird nach Antritt der Lagerhaft 1937 veröffentlicht. Insgesamt wird Schalamow vierzehn Jahre in Gefängnissen und Lagern verbringen.

"Über die Kolyma" beginnt ohne Umschweife: "Am 12. Januar 1937 wurde ich verhaftet." Die Verhöre im Moskauer Butyrka-Gefängnis werden rekapituliert, das Urteil wegen "konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit" samt Abtransport im Viehwaggon in den fernen Osten Sibiriens folgt ein halbes Jahr später. Der Transport führt nach Wladiwostok, dann per Schiff weiter nach Magadan in den äußersten Nordosten Russlands. In der Kolyma-Region ist der Kältepol des Gulag mit den schlimmsten Lebensbedingungen und der höchsten Sterblichkeitsrate erreicht. Zwischen 1937 und 1956 entsteht dort unter dem Namen "Dalstroj" ein Lagerkomplex von immenser Größe, in dem bei winterlichen Temperaturen bis minus 60 Grad zwischen siebzig-und hunderttausend Häftlinge Gold abbauen. Schalamow kommt zur Zeit von Stalins "Großem Terror" dort an -zwölftausend Gefangene werden hingerichtet; die höchste Insassenzahl des Lagerkomplexes wird 1942 mit 177.000 Häftlingen erreicht.

Schalamow arbeitet in Kohlegruben, im Schacht, beim Straßenbau, als Waldarbeiter, er wird für sogenannte "allgemeine Arbeiten" herangezogen und beschließt sehr bald: "ich werde nicht für diesen Staat arbeiten [ ] Einen Sklaven wird er nicht aus mir machen." Diese Art des Widerstandes hat in der von "normalen" Verbrechern und verachteten Brigadieren dominierten Lagerwelt nur begrenzten Erfolg. Knapp heißt es über die "Schläge des Jahres 1938":"mich schlugen sie unendlich viele Male." Im Herbst 1945 gelingt ihm ein "Fluchtversuch", bei dem klar ist, dass es sich aufgrund der geografischen Bedingungen nicht um ein Entkommen in die Freiheit handelt, sondern um eine Flucht aus einem Neben-in ein Zentrallager, um Beschwerden gegen die miserablen Arbeitsbedingungen beim Goldbergbau vorzubringen. Ein Selbstverstümmelungsversuch scheitert, mittlerweile gilt es vor allem, nicht zum "Dochodjaga", zum "Verrecker", zu werden - die drastische Bezeichnung für den Zustand völliger Entkräftung und Auszehrung knapp vor dem Tod.

Späte Rehabilitierung

In dieser Welt grenzenloser Grausamkeit, in der allgemeines Misstrauen herrscht und jeder sich selbst der Nächste ist, in der alle Abstufungen an Verschlagenheit und Niedertracht, von Verrat und Gewalt bis zu Mord und Totschlag, zum Alltag gehören, stellen zwei knapp geschilderte Episoden eine schillernde Ausnahme dar.

In einem "Experiment" unterzieht eine Lagerärztin den Häftling S. mehrfach einer "Exhumierung" - es geht um Sex im Gulag. Die wenige Zeilen umfassende Skizze "Kilometer 23" unternimmt den Versuch, den Austausch von Zärtlichkeiten zwischen zwei Häftlingen zu beschreiben: "Ich streichelte und küsste Stefas Hände, und es war, als trügen sie Handschuhe, Lederhandschuhe mit abgeschnittenen Fingern, meine Lippen waren nicht erfroren, und ich küsste die harte, kratzige Haut der Hände und die zarte heiße Haut jeder Fingerspitze." Warlam Schalamow ist zu diesem Zeitpunkt zum mehr oder weniger "privilegierten" Arzthelfer avanciert. An seinem "Resümee" der Lagerhaft, die 1953, nach Stalins Tod, endet, ändern auch derartige Momente wenig: "Wie oft hat man auf mich geschossen? Mich mit der Waffe bedroht? Oft. Öfter wahrscheinlich als jeden Soldaten im zweiten Weltkrieg", schreibt er in Hinblick auf den mittlerweile beendeten "Großen Vaterländischen Krieg".

Eine Aufzeichnung in seinen Notizbüchern aus den späten 1950er Jahren, als Schalamow nach seiner Rückkehr aufs "Festland" mit der Niederschrift seiner Erzählungen aus Kolyma beginnt, konstatiert düster skeptisch: "Wer aus der Hölle zurückkehrt, bringt nichts mit. [] Alles wovon ich erzählen werde, wird zwangsläufig geglättet und abgemildert sein." Warlam Schalamow wird 1960 rehabilitiert und in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen, auch ein Band seiner im Lager entstandenen Gedichte kann erscheinen. Dennoch ist dem in den 1970ern in Russland praktisch vergessenen, mittlerweile in einem Altersheim lebenden Autor kein ruhiger Lebensabend beschieden. Nach Veröffentlichung seiner Texte im Westen wird der zuletzt fast blinde und taube Schalamow, der heute zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands zählt, vom KGB in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie verlegt; dort stirbt er 1982.

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