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Ost-Fermente

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Die gesamte Kulturlandschaft Europas würde sich verändern, würden die Emigranten wieder in der Sowjetunion schreiben können.

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Die gesamte Kulturlandschaft Europas würde sich verändern, würden die Emigranten wieder in der Sowjetunion schreiben können.

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Die Nachricht, daß Bücher von Alexander Solschenizyn in der Sowjetunion erscheinen werden, war also eine Ente. Die ,Krebs Station“ und der ,Archipel Gulag“ — sogar davon berichteten die Zeitungen — bleiben weiter den westlichen Lesern vorbehalten.

Aber die Ente war sensationell prächtig gefiedert und signalisierte gerade das, was man erwartet hatte. Jetzt noch Solschenizyn, und wir haben eine liberale Sowjetunion. Wenn schon Andrej Sacharow in Moskau wieder öffentlich bei Veranstaltungen — noch dazu im Fernsehen — zu sehen ist, wenn erstmals ,Doktor Schiwago“ herausgebracht wird, wenn Andrej Tarkowskij eine Filmwoche erhält, warum dann nicht auch die Edition der Bücher Solschenizyns.

Nun, da hat man wohl doch Angst bekommen. Soweit geht es noch nicht. Aber man probiere einmal folgendes Gedankenspiel: Alexander Solschenizyn, Alexander Sinowjew, Andrej Sinjawskij, Jossif Brodskij, Jefim Etkind wieder in der Sowjetunion — warum nicht auch als Heimkehrer, friedlich arbeitend, in Moskau oder Leningrad?, dann vielleicht auch Milan Kundera, Josef Škvorecký, Jiří Kolář in Prag, oder Czesław Miłosz, Sławomir Mrożek, Kazimierz Brandys, Jan Kott wieder in Warschau oder Krakau — man könnte noch eine lange Liste von Namen ergänzen.

Die gesamte Kulturlandschaft Europas würde sich verändern — und zwar keineswegs zugunsten des politischen Westens. Dort sitzen nämlich die Emigranten aus dem sogenannten Osten und bilden das unschätzbare Ferment des heutigen Kulturlebens.

Wie stünde es um die Kultur des Westens, wenn der reale Sozialismus auf diese so fruchtbaren, wertvollen Intellektuellen und Künstler nicht ängstlich verzichtet hätte? Marc Chagall, Wassily Kandinski, Alexej Jawlenskij gaben gerade im Westen entscheidende Impulse.

Warum sollten ähnliche Impulse nicht erfolgen, wenn alle diese Emigranten - bei offenen Grenzen - nicht hätten ihr Land verlassen müssen oder wenn sie zurückkehren könnten, um dort ungestört zu arbeiten und zu publizieren?

Natürlich würden sie vorerst ihrem eigenen Land zugute kommen. Gorbatschow ist einer solchen Möglichkeit immerhin auf der Spur. Demokratische Normalität braucht Zeit nach derart prägenden totalitären Epochen. Der geniale Stanislaw Lern hat den Vogel abgeschossen, er ist zukunftsorientiert: er schreibt über das 23. Jahrhundert und lebt in Krakau und Wien. Ganz normal — und doch immer noch ein Stück verwirklichte Science-fiction.

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