Von Originaltönen im Lärm der Zeit

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Der Nobelpreis für Literatur geht heuer an Swetlana Alexijewitsch. Diese Entscheidung verschafft nicht nur dem Werk der weißrussischen Schriftstellerin verdiente Aufmerksamkeit, sondern erinnert darüber hinaus an ein anderes Russland - ein Russland der Kunst und Kultur.

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Der Nobelpreis für Literatur geht heuer an Swetlana Alexijewitsch. Diese Entscheidung verschafft nicht nur dem Werk der weißrussischen Schriftstellerin verdiente Aufmerksamkeit, sondern erinnert darüber hinaus an ein anderes Russland - ein Russland der Kunst und Kultur.

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Wenn der Sinn des Nobelpreises für Literatur darin besteht, einer Autorin zumindest für kurze Zeit weltweite Aufmerksamkeit zu sichern, dann ist die Vorstellung, die internationale Leserschaft werde jetzt verstärkt zu den Werken von Swetlana Alexijewitsch greifen, eine durchaus sympathische. Die dokumentarische Prosa der 1948 im heutigen Iwano-Frankiwsk (Ukaine) geborenen Autorin hält nämlich allerhand Interessantes bereit und kann das Verständnis für das, was man heute Putins Einflusssphäre nennt, ganz wesentlich vertiefen.

Seit der Sozialistische Realismus beim Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller 1934 als verbindliche künstlerische Methode festgelegt wurde, gab es in der sowjetischen Literatur immer wieder Versuche, die dogmatischen Vorgaben zu unterlaufen, ohne sofort in einen lebensgefährlichen Widerspruch zum System zu geraten. Der weißrussische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Ales Adamowitsch (1927-1994) hat seine Karriere dem Versuch geopfert, durch Belegzitate der sowjetischen Literatur, wenn schon nicht die Wahrheit, so doch wenigstens Authentizität zurückzugeben. Adamowitsch war - schwer angefeindet und heute vergessen - einmal der führende Dokumentarist seines Landes. Swetlana Alexijewitsch hat sich mehrfach auf ihn berufen, sie ist seine Schülerin, sie hat seine Methode weiterentwickelt - und so ist der diesjährige Nobelpreis für Literatur auch die späte, dafür aber glanzvolle Rehabilitierung einer dissidenten künstlerischen Methode.

Am Puls der Zeit

Alexijewitschs Werke waren immer am Puls der Zeit und begleiteten so auch die wichtigsten Stationen des sowjetischen Endspiels. Ihr erster großer Erfolg "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" (Anfang der 80er-Jahre begonnen) konnte erst erscheinen, als Michail Gorbatschow 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde. Wenn man sich unter dem Schlagwort "Perestroika" etwas vorstellen will, so trifft das deutsche Wort "Umbau" die Sache eigentlich ganz genau. Der Begriffszwilling "Glasnost" ist schwieriger einzudeutschen. Es ist schon richtig, dass die Forderung letztlich auf mehr Öffentlichkeit und Transparenz hinausläuft; aber in dem Wort "Glasnost" steckt hörbar (ob das nun etymologisch haltbar ist oder nicht) auch ganz wesentlich das Wort "Stimme". Es geht mithin um Artikulation, um Ausdruck und Klang. Alexijewitschs Buch über die sowjetischen Frauen, die im Zweiten Weltkrieg in den Kampf geschickt wurden, war eben nicht der zu erwartende Heldengesang der Frontkämpferinnen, sondern der vielstimmige Chor, montiert aus O-Tönen, die Alexijewitsch in langen Recherche-Jahren gesammelt hatte. Scharfe Kritik, Anzeigen und Verfolgung waren dann auch die Folgen der schweren Irritation, die diese Vielstimmigkeit im postsowjetischen Russland ausgelöst hat.

Ähnliches lässt sich auch für "Zinkjungen"(1989, dt. 1992) beobachten. Der sowjetische Afghanistankrieg (1979 bis 1989) war ein Menetekel. Das Undenkbare war passiert, eine Niederlage kündigte sich an. Ein Fall, der im sowjetischen Heilsplan überhaupt nicht vorgesehen war. Die Symbolkraft dieser Niederlage wird heute meist unterschätzt. (Wenn man sie überhaupt ins Kalkül zieht.) Das Buch aber war Anfang der 1990er-Jahre der Text des Tages. Für eine Gesellschaft, in der Mann, Soldat und Held eines ist, bedeutet die Möglichkeit einer Niederlage der Sturz ins Bodenlose. Es war damals nicht nur der Systemwechsel, der alle Gewissheiten ins Wanken brachte, es waren auch Bücher wie dieses, die zum Überdenken der tradierten Werte Anstoß gaben. Es folgte "Im Banne des Todes" (1993, dt. 1994), ein erschütterndes Buch, für das Alexijewitsch die Angehörigen von Selbstmördern befragte. Auf diese verstörenden Aussagen wird man zurückgreifen, wenn man einmal die Geschichte dieses epochalen und beispiellosen Systemwechsels beschreiben will. Denn genau so und nicht anders hat es in Köpfen der Leute ausgesehen. Es sind Dokumente eines bestimmten historischen Moments, die bleiben werden.

Man hat immer wieder die Frage gestellt, ob Alexijewitschs Bücher Literatur sind oder doch "nur" Zeitdokumente oder eine Art gehobener Journalismus. Falls die Fragestellung -abgesehen von ihrer leicht durchschaubaren Kränkungsabsicht - überhaupt einen Sinn hat, lässt sich gerade am Beispiel dieses Buchs eine Antwort versuchen: In einer Gesellschaft mit totalitären Traditionen ist der Verweis auf die individuelle Wahrnehmung ein unverzichtbares Gegenmittel. Jeder, der als Journalist oder Schriftsteller mit Originaltönen (in der Form von Interviews, Straßenbefragungen usw.) arbeitet, weiß, dass das Zitat, für sich genommen, alles und nichts bedeutet und erst der Kontext das Gesagte zum Sprechen bringt. Bei der Montage dieser Kurzbiografien zeigt sich die souveräne Kunstfertigkeit der Autorin. Ihr Buch "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft"(1997) folgt diesem Prinzip ebenso wie "Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus" (2013). Immer sind es die Auswahl, der Schnitt, die Montage, die letztlich für das künstlerische Gelingen verantwortlich sind.

Natürlich spürt man in ihren Werken noch deutlich den Aufbruchsgeist der 90er-Jahre, der Jelzin-Ära. Vor dem inneren Auge des Lesers kehren die konspirativen Küchengespräche, die ersten freien TV-Diskussionen und die Zeit des demokratischen Aufbruches zurück. Diesem Geist ist auch ihr Opus Magnum "Secondhand-Zeit" verpflichtet, eine Kompilation sowjetischer Biografien, eine Ansammlung von Ungeheuerlichkeiten, wie man sie auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion überall findet, wenn man nur den Mut hat, nachzufragen. Es ist eine Ergänzungslektüre für Nachrichtenjunkies, die ihr Russlandbild nur aus den Medien beziehen. Hier kommt Russland in einer Totalität zur Sprache, der postsowjetische Raum, soweit er russisch-sprachig ist, wie es das eben nur das Kunstwerk - nicht die noch so gut gemachte Reportage - leisten kann.

Jeder Satz wird zum Sandkorn im Getriebe

Dass die erste weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Russisch schreibt und spricht, erklärt sich aus ihrer sehr typischen sowjetischen Biografie. Die Loyalitäten und politischen Grundüberzeugungen lassen sich (wie in der Ukraine ja auch) nicht an einer Sprache festmachen. Dass man aber ein guter weißrussischer Staatsbürger sein kann, ohne immer und bei jeder Gelegenheit Weißrussisch zu sprechen, darf jedenfalls als sicher gelten.

Ja, Swetlana Alexijewitsch ist eine politische Autorin. Sie arbeitet bewusst dokumentarisch. Sie stellt mit ihren Büchern dem offiziellen Narrativ Material zur Seite, das dieser Darstellung zuwider läuft: Jeder Satz wird so zum Sandkorn im Getriebe. Kein Wunder also, dass ihre Bücher in Weißrussland nicht erscheinen können und nur da und dort zu kaufen sind. Ihre Bücher waren und sind umstritten. Sie wurde für ihre Arbeit verfolgt und nur dank der starken internationalen Beachtung kann sie mehr oder weniger unbehelligt in Minsk leben. Die Nobelpreisverleihung wird den Regimen in Russland und Weißrussland keine ernsten Probleme bereiten. Literatur ist weder für Putin noch für Lukaschenko ein Begriff, mit dem sie irgendetwas anfangen können. Sie werden den Preis als einen weiteren unfreundlichen Akt des Westens missverstehen, als ein Projekt, das sich feindliche Mächte ausdenken, um ihnen zu schaden.

Faktum ist, dass ihre so radikal zeitbezogenen Arbeiten nicht wirklich altern: Die Bücher von Swetlana Alexijewitsch werden gelesen, erleben Neuauflagen und bleiben. Sie stehen in der großen Tradition russischer Literatur. Aus ihnen spricht das andere Russland, das Russland der Kunst und Kultur, das Russland von Dostojewski und Tschechow, das heute leider immer mehr in Vergessenheit gerät. Wollte die Schwedische Akademie in ihrer Nobelpreisentscheidung an dieses Russland erinnern, so sei ihr für diesen richtigen und notwendigen Hinweis von ganzem Herzen gedankt.

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