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DER FILM NACH CHRUSCHTSCHOW

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Ij“s war im März 1964. Bei einer Tagung der sowjetischen ■* Schriftsteller und Künstler in Moskau wetterte der einstige Ministerpräsident Chruschtschow gegen Strömungen im literarischen und anderweitig schöpferischen Betrieb, die ihm außerordentlich mißfielen. In seiner „herzerfrischenden“ Art attackierte er nicht nur einzelne Werke, sondern auch deren Erzeuger. Auf dem filmischen Gebiet nahm er insbesondere den Nachwuchsregisseur Marlen Kutsijew und seinen Film „Iljitsch-Tor“ aufs Korn. Darin seien — wir zitieren aus der diesbezüglichen Meldung eines italienischen Korrespondenten

— „Nichtsnutze und Halbdegenerierte dargestellt, die vor nichts und niemandem Respekt, vor allem kein Vertrauen zu den Älteren haben, diese sogar hassen“.

In der Folge wurde der also verdammte Streifen „kassiert“. Seinem mutigen Gestalter widerfuhr ansonsten kein Harm

— im Gegenteil: Als Mitte August die Union der sowjetischen Filmkünstler nach sieben Jahren Neuwahlen für das Präsidium vornahm, rückte — mit dem berühmten Tarkowskij („Iwans Kindheit“), mit Georgj Danelia (dessen Lichtspiel „Ich wandere durch Moskau“ beim letzten Festival in Cannes konkurrieren durfte) und anderen Debütanten — auch der von Chruschtschow gemaßregelte Kutsijew in das Führungsgremium auf. Die an ihm von höchster Seite geübte Kritik störte die russischen Cineasten nicht; schließlich war ja auch Tarkowskij zunächst des „Formalismus“ bezichtigt worden ...

Allerdings: das verfemte Leinwandgebilde „Iljitsch-Tor“ wurde nicht freigegeben, sondern dem produzierenden Gorki-Studio mit der Auflage zurückgereicht, es „abzuändern“. Das geschah denn auch am Schneidetisch. Die Schere klapperte munter; rund die Hälfte aller gedrehten Szenen fiel ihr zum Opfer. Ausweislich einer Agenturmeldung erblickte das zurechtgestutzte Werk am 10. November 1964 — über ein Jahr nach seiner Herstellung — mit Billigung der neuen Kreml-Herren das Licht der Projektionslampe. Unter einem anderen Namen freilich: Es heißt jetzt „Ich bin zwanzig Jahre alt“.

Die erwähnte Meldung erschien in der Weltpresse unter zum Teil irreführenden Uberschriften. Ein französisches Blatt schrieb beispielsweise: „K (= Chruschtschow) sagte“,nein' — die Neuen sagen“,ja'.“ Man glaubte offenbar, in dem Vorgang eine weitere Liberalisierung des sowjetischen Kunstbetrieb sehen zu können. Das trifft nach Lage der Dinge wenigstens nicht in dem vermuteten Umfang zu. Kutsi-jews Streifen wurde ja nicht in der ursprünglichen Fassung und Länge, sondern erheblich verstümmelt zugelassen. Dieser Umstand spricht keineswegs für eine großzügigere Praxis bei der filmischen Behandlung nicht eben bequemer Themen, wozu auch und gerade das Jugendproblem gehört, das den Sowjets auf die Dauer so viel zu schaffen macht wie den Verantwortlichen in den „kapitalistischen“ Ländern. Bislang kennen wir auf diesem Gebiet — siehe etwa das obengenannte Lichtspiel „Ich wandere durch Moskau“ — hauptsächlich die komödiantische oder satirische Ausprägung der Sujets, die allenfalls in milder Form Kritik am Gebaren der Heranwachsenden übt. Die „knallharte“ Darstellung, die auch vor der Wiedergabe unzweifelhaft vorhandener Mißstände nicht zurückschreckt, fehlt unseres Wissens noch. Vielleicht hat Marlen Kutsijew sie versucht. Es war leider ein Mißerfolg. Dessen ungeachtet, darf man annehmen, daß die schon in der Chruschtschowschen Ära begonnene Liberalisierung der sowjetischen Kunst, zumal der Filmkunst, unter den Nachfolgern Breschnew und Kossygin langsam, aber stetig fortgesetzt werden wird. Es gibt ja Themen und Gegenstände, bei denen das Signal vorbehaltlos auf „freie Fahrt“ steht — siehe beispielsweise den Dogmatismus, den Personenkult und weitere Auswüchse des Stalinismus (wozu von Tschukrajs „Klarem Himmel“ bis zur neuerlichen „Stille“ von Wladimir Bassow, zu Pirjews Vorhaben „Das Licht von einem fernen Stern“ eine Vielzahl kinematographischer Werke vorliegt). Auf anderen Stoffgebieten, auch so schwierigen wie der Jugendfrage, dürfte früher oder später eine jetzt noch zu beobachtende Zurückhaltung aufgegeben werden. Dafür sprechen einige Projekte, die in letzter Zeit bekanntgegeben wurden. Dafür spricht die Tatsache, daß immer mehr Nachwuchs in die russischen Ateliers drängt — 1964 kamen von den Filmhochschulen allein 41 Jungregisseure, denen, wie man hört, sehr an einer Selbstdarstellung ihrer Generation gelegen ist. Dafür spricht vor allem die zunehmende Einsicht führender Kreise, daß es der kommunistischen Sache — nicht zuletzt im Ansehen des Auslandes — nützlicher ist, in diesen Dingen großzügiger zu sein, mehr Freiheit zu gewähren, wodurch das Regime, wie erwiesen, nicht nur nicht geschwächt, vielmehr gefestigt, gestärkt wird, im Innern wie nach außen hin — eine alte Erfahrung, die noch jedes Filmland, gleich welcher Regierungsform, gemacht hat.

Die Liberalisierung wird also unbeschadet der Veränderungen im Kreml weitergehen — freilich nur Schritt für Schritt, sozusagen ratenweise. Wobei Pannen nicht ausgeschlossen sind. Erst vor einiger Zeit ereignete sich wieder eine solche: Der importierte Film „Scheidung auf italienisch“ wurde, nachdem er schon in einigen Kinos von Moskau und Leningrad angelaufen war, plötzlich von den Spielplänen mit der Begründung abgesetzt, er „korrumpiere die Jugend“. Eine Maßnahme der neuen Regierung? Man weiß es nicht. Ein Rückfall in die frühere unnachsichtigere Denkgewohnheit oder Beurteilungspraxis? Vermutlich nicht. Wahrscheinlich verfügten das untergeordnete, wenngleich in diesem Falle maßgebende Funktionäre, die wieder einmal einen Streifen, der im Gewände der Satire lediglich eine Parabel, nicht jedoch die Wirklichkeit vorträgt, nicht kapierten. Besucher der letzten Moskowitischen Filmfestspiele erlebten dasselbe bei Fellinis „Achteinhalb“, den nicht einmal der reputierte Regisseur Gerassimow begriff...

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