Seite 5 - © Foto: Rainer Messerklinger

„Camel Travel“: Fabulierkunst als Überlebensstrategie

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Die Lyrikerin und Linguistin Volha Hapeyeva wuchs im spätsowjetischen Belarus auf. Ihr erster Roman „Camel Travel“ wurde nun ins Deutsche übersetzt.

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Die Lyrikerin und Linguistin Volha Hapeyeva wuchs im spätsowjetischen Belarus auf. Ihr erster Roman „Camel Travel“ wurde nun ins Deutsche übersetzt.

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In dem Gedichtband „Mutantengarten“ der 1982 geborenen Minskerin Volha Hapeyeva finden sich folgende Zeilen: „sich der unvollkommenheit zu stellen […] / der eigenen / und der der anderen“. Das Buch wurde 2020 in der Übersetzung von Matthias Göritz, Martina Jakobson und Uljana Wolf in der Edition Thanhäuser in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Haus der Autorinnen und Autoren Graz herausgegeben.

2019 war Volha Hapeyeva dort Stadtschreiberin. Sie kehrte aufgrund der Pandemie und nach dem Ausbruch der Revolution in Belarus nicht mehr in ihr Heimatland zurück: eine Dichterin im Exil, die in der belarusischen* Sprache beheimatet ist und sich in dieser, wie sie in einem Interview sagte, immer frei gefühlt hat.

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Diese Sprache spielt im Alltag des Landes allerdings kaum eine Rolle, weil (noch immer) das Russische dominiert. Doch von Intellektuellen und Künstlern wird sie bewusst als Akt des Widerstands gegen das Regime verwendet.

Selten wurde die Kraft von Sprache, aber auch die Bedrohung, die von den Künsten ausgehen kann, in den letzten Jahrzehnten so deutlich wie in Belarus, wo Tausende von Menschen, unter ihnen zahlreiche Kunstschaffende, für eine friedliche Revolution auf die Straße gingen und der Gewalt Liebe entgegensetzen wollten, doch mit Repression, Inhaftierung und Folterung konfrontiert wurden. Sogar vor einer Literaturnobelpreisträgerin wie Swetlana Alexijewitsch machte der Verhörapparat nicht halt.

Auf Belarusisch zu schreiben, ist demzufolge ein bewusster politischer Akt, und auch Volha Hapeyeva drückt sich in dieser Sprache aus, der sie in ihrer Kindheit noch gar nicht begegnet war, als sie in einem Staat lebte, der zwei Hauptstädte hatte, Minsk und Moskau, und zwei Sprachen, von denen die eine die andere in kolonialistischer Weise beherrschte. Doch Hapeyeva geht in ihrem Schreiben eine Dimension tiefer, indem sie eine Poetik des Fragilen, Fragmentarischen, dem Konkreten und Ausgegrenzten Zugewandten entwirft und damit die diktatorische Sprache, die absolut setzt, nicht hinterfragt und gewaltsam und ausgrenzend ist, unterläuft und sogar in ihrer Primitivität bloßstellt. Ihre Texte sind hochkomplexe Gebilde, feinste Wortgespinste, in denen sich Sprachsensibilität und Wissen miteinander verbinden.

Volha Hapeyeva, das ist ihren Texten eingeschrieben, ist auch Wissenschaftlerin. Ihre akademische Biografie weist das Studium des Französischen, Deutschen und Englischen auf, einen Masterstudiengang in Gender Studies in Vilnius sowie die Erlangung des Doktorgrades in Vergleichender Linguistik an der Universität Minsk. Und so ist es ihr als Linguistin ein Leichtes, mit Wörtern und Sprachen zu spielen und dabei zu philosophieren, ohne – und das ist es, was bei der literarischen Verwandlung von Erfahrung in Sprache geschehen kann – auf die Dimension des Körpers zu vergessen, vielmehr: Körper und Sprache als einander bedingende Resonanzräume zum Schwingen zu bringen.

Das Wissen und die Bildung sind dabei die Pfeiler, auf denen die Empathie, das Von-sich-Absehen und Sich-in-anderes-Hineindenken erst entstehen kann, seien dies Bäume, vom Krieg traumatisierte Menschen, Emmeline Pankhurst, eine Sonja. Dieses Sich-Hineinempfinden ist zunächst einmal ein zutiefst poetischer Akt, der Mund „eine art linguistischer schuh“, erlangt dann aber politische Bedeutung, wenn der Schuh auf dem Parkett einer Diktatur zum Tanzen kommt.

Hapeyevas Texte sind hochkomplexe Gebilde, feinste Wortgespinste, in denen sich Sprachsensibilität und Wissen miteinander verbinden.

Nach sieben Lyrikbänden, drei Kinderbüchern und einem Prosaband hat Volha Hapeyeva, die mit Valzhyna Mort und Julia Cimafiejeva zu den bedeutendsten belarusischen Dichterinnen gehört, im Jahr 2019 mit „Camel Travel“ ihren ersten Roman publiziert, der vor Kurzem in der Übersetzung von Thomas Weiler, einem der wichtigsten Vermittler des Belarusischen, im Droschl Verlag erschienen ist. Auch im Roman bleibt Volha Hapeyeva ihrem Verfahren des Fragmentarischen, Unabgeschlossenen treu und treibt es sogar weiter voran, indem sie es auf Prosa anwendet, auf kurze autofiktionale Episoden, die sich in loser Aneinanderreihung um ihre Kindheit im spätsowjetischen Belarus drehen, und dennoch auf der Gattungsbezeichnung „Roman“ beharrt.

Im Mittelpunkt steht die Erlebniswelt des Mädchens, und en passant erfahren wir mehr darüber, was die Besonderheit dieser Kindheit in einer Sowjet-Republik war. So lesen wir, dass die Mutter immer den Fuß ihrer Tochter als Kartonabdruck mit sich trug, um bei einem unvermutet möglichen Verkauf von Winterstiefeln zuschlagen zu können; wir erfahren, wie man ohne Klavier im Haus dennoch auf diesem Instrument spielen oder wie man sich mit dem magischen Glauben an die Sprache über brenzlige Situationen hinwegretten konnte. Denn schon damals waren die Wörter das Kapital, der Schatz, den man hütete, wo man doch, „wie die meisten meiner Bekannten, nichts besaß, und wenn ich etwas hatte, gehörte es allen oder niemandem“.

Das ist nun keineswegs plumpe Ideologiekritik, vielmehr tritt in diesen wenigen Worten das Skandalon der Verunmöglichung und Unterdrückung von Individualität zutage, wo zögerliche Ansätze davon mit Scham behaftet und nur in der Heimlichkeit möglich waren. Es ist von der Bedeutung des Körpers die Rede und davon, wie sehr seine „Ertüchtigung“ im Sportunterricht bereits eine Zurichtung auf die Zukunft hin war; oder davon, wie die scheinbar gleichberechtigten Frauen extrem konservativen Frauenbildern ausgesetzt waren. All dies wird in einer unprätentiösen und gerade dadurch eleganten Sprache erzählt, verbirgt aber nicht die Verstörungen und die aufkeimende Rebellion, die die junge Frau eine Zeit lang zur Außenseiterin und Randständigen werden lässt.

Kluge philosophische Überlegungen und scharfsichtige Beobachtungen lassen den Text an vielen Stellen hell funkeln, und die Leichtfüßigkeit der Sprache und die vordergründige Heiterkeit täuschen an keiner Stelle darüber hinweg, dass schon auf der nächsten Seite (des Lebens) die Fallen und Abgründe der Unmöglichkeit lauern, in diktatorischen Welten angstfrei „Ich“ zu sagen.

Fabulierkunst und Fiktion können so zu Überlebensstrategien werden: „du fantasierst dir einfach zusammen, dass etwas nicht geschehen ist, irgendein Erlebnis, das dich in deiner ganzen menschlichen Würde gekränkt hat, aber weil das zu schmerzhaft und zu peinlich ist und überhaupt schlecht funktioniert, denkst du dir lieber etwas aus, das angeblich geschehen ist. Das ist also meine Geschichte.“

*Um den Unterschied zwischen Belarus und der Russischen Föderation (Russland) deutlich zu machen, wird auch hier die Schreibung „belarusisch“ gegenüber „belarussisch“ bevorzugt.

Camel Travel - © Droschl Verlag
© Droschl Verlag
Literatur

Camel Travel

Roman von Volha Hapeyeva
Aus dem Belarusischen von Thomas Weiler
Droschl 2021
128 S., geb., € 18,–

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