Peter Henisch - © Foto: APA / Robert Jaeger

Peter Henisch: Ein Jahrhundert aus Literatur

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Peter Henisch hat einen „Jahrhundertroman“ geschrieben: einen vielschichtigen Text über Literatur, die Unruhe erzeugt, damit man sich nicht mit dem Bestehenden zufriedengibt.

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Peter Henisch hat einen „Jahrhundertroman“ geschrieben: einen vielschichtigen Text über Literatur, die Unruhe erzeugt, damit man sich nicht mit dem Bestehenden zufriedengibt.

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Bis jetzt ist offensichtlich noch niemand auf die Idee gekommen, einen Roman nicht nur als Jahrhundertroman zu charakterisieren, sondern ihn auch so zu nennen. In den 1990er Jahren legte Bertelsmann in der „Jahrhundertedition“ etwa 100 Jahrhundertromane neu auf – der österreichische Anteil daran, inklusive k. u. k., immerhin zehn Prozent. Heinrich Breloers monumentales dokumentarisches Filmwerk über die Familie Mann mit Armin Mueller-Stahl als Thomas Mann trug den Untertitel: „Ein Jahrhundertroman“. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Centenniumswechsel aber kommt Peter Henisch jetzt tatsächlich mit einem so betitelten Buch heraus, und das bezieht sich nicht auf das laufende, sondern das vergangene Jahrhundert.

Postmoderne Zustände

In Henischs „Jahrhundertroman“ arbeitet ein alter Mann namens Roch an einem Roman-„Projekt“ desselben Titels, welches „seinem Wesen nach das Wesen des 20. Jahrhunderts widerspiegeln“ soll. Es wird ein „Autorenroman“, in dem die „Autorinnen und Autoren meines Jahrhunderts“ eine „tragende Rolle“ spielen. Dabei ist nicht nur an deren Bücher gedacht, sondern – „auch unmittelbar, als Personen der Handlung“ – an deren Biografien, durch die „die Wirklichkeit hereinund durchzieht“.

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Ein Problem mit dieser Widerspiegelung ist, dass der Autor seine Sehkraft weitgehend verloren und nach einem Schlaganfall auch Schwierigkeiten mit seinem Erinnerungsvermögen hat und deshalb nach Unterstützung beim Abtippen des sehr umfangreichen Manuskripts sucht. Die dafür ins Auge gefasste Linzerin Lisa, Studentin der Germanistik an der Universität Wien, nebenerwerbstätige Kellnerin in seinem Stammcafé, hat allerdings große Schwierigkeiten, die Schrift Rochs zu entziffern. Noch dazu bringt sie bei einer alkoholreichen Feier mit ihrem zeitweiligen Bettpartner Ronnie das unpaginierte Manuskript komplett durcheinander (eine Idee, die sich schon im „Kater Murr“ von E. T. A. Hoffmann findet, ein für Henisch seit jeher sehr wichtiger Autor). Dadurch kommt die angedachte Darstellung der Wirklichkeit durch eine alternative Literatur- beziehungsweise besser Autorengeschichte zwar gehörig durcheinander, was aber nichts macht, denn: „Wenn sich Ordnung nicht herstellen lässt, akzeptieren wir die Unordnung.“

Nicht nur das Manuskript ist symbolisch für diesen sehr postmodernen Zustand von Literatur und Wirklichkeit, sondern auch der Ort eines großen Teils des Geschehens. Roch, ehemaliger Angestellter der Wiener Städtischen Büchereien und auch Buchhändler, haust in einem „Depot“, gefüllt mit Büchern und Druckwerken aller Art, die ihm zur Verfertigung seines Romans dienen sollen: das 20. Jahrhundert als Buchlager.

In diesem Depot nun sitzt in ihrer freien Zeit die sich in materiellen Nöten befindliche Lisa und tippt mit Lesehilfe des Autors Seiten, die sie nach dem Zufallsprinzip aus dem chaotischen Manuskript hervorzieht. Der Einstieg in den Roman, der mit Musil am Tag der Republikgründung im November 1918 beginnen soll, ist zunächst verlorengegangen. Dafür kommen verschiedene andere Autorinnen und Autoren zum Vorschein, etwa Thomas Bernhard (mit „Heldenplatz“ im November des „Bedenkjahrs“ 1988) und Peter Handke, Joseph Roth und Josef Weinheber, Heimito von Doderer (als Offizier in Frankreich und der Sowjetunion und danach lediglich oberflächlich entnazifizierter österreichischer Nationaldichter), Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker (die sich tapfer gegen die Männerriege in der österreichischen Nachkriegsliteratur wehren), die Wiener Gruppe (Oswald Wiener, Gerhard Rühm, Ernst Jandl, H. C. Artmann), die sich frech gegen die Doderers durchsetzen, Exilanten wie Albert Drach (durch den südfranzösischen Wald stolpernd), ja selbst „Österreichs liebster Germanist“ Wendelin Schmidt-Dengler.

Alternative Biografien

Die Erzählsituation langer Passagen dieses Romans war in der bisherigen Literaturgeschichte unbekannt: Ein mit der Lupe eher schlecht als recht lesender Autor reflektiert anhand seines heillos chaotischen Manuskripts, in das er sich nun erst langsam wieder einfinden muss, die sich darin befindlichen – offenbar auch nicht sehr geordneten – Biografien der Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Autoren und Autorinnen werden in Momenten ihres Lebens beobachtet, die zwar signifikant sind, häufig auch ihr skurriles Wesen treffen, vor allem aber Situationen beleuchten, die ihrem kanonisierten Bild zuwiderlaufen. Häufig tun sie auch etwas, das dem widerspricht, was „tatsächlich“ (?) passiert ist.

Das diskursive und intertextuelle Netzwerk, das der Roman bietet, ist nicht nur Symbol, sondern auch Handlungsanleitung.

Doderer etwa verbrennt – vielleicht, so genau weiß man das nicht – sein Hauptwerk „Die Dämonen“, zu dessen nationalsozialistischer Konzeption er nun doch nicht mehr stehen will. Altbekannte Autoren lernt man so neu kennen, und weniger etablierte (Christine Nöstlinger, die hier von Ernest Hemingway einen Heiratsantrag erhält) werden Teil des Kanons.

Kein Wunder, dass Lisa zunächst weder mit dem Roman noch seinem Autor viel anzufangen weiß. Allerdings entwickelt sie ein unbestimmtes Gefühl, das sie zu Roch hinzieht. Da sie selbst insgeheim schreibt, kennt sie die „Literaturschmetterlinge im Bauch“ und entdeckt auf dieser Ebene eine gewisse Gleichgestimmtheit. Zwar ist sie literaturgeschichtlich weitgehend ignorant und kennt einige von Rochs Figuren, die Zugang zum alten Jahrhundert bieten sollen, nicht einmal per Namen. Aber sie kann sehr gut Rochs kulturkritische Diagnose des neuen Jahrhunderts verstehen, wenn er sagt: „Wir leben in Fastfoodzeiten.“

Denn Lisa entstammt einem wohlhabenden Arztmilieu. In den Videoclips der Familie ist „alles auf die Darstellung unseres komfortablen Glücks programmiert“. Schon bald hegt sie allerdings den Verdacht, dass „die Wirklichkeit nicht so kitschig schön“ ist, was durch das Auffliegen der Affäre des Vaters mit seiner Ordinationshilfe kurz vor dem Urlaub auf La Réunion bestätigt wird, gefolgt vom Auseinanderbrechen der Musterfamilie. Lisa entwickelt zunehmend das vielen Figuren in Henischs Romanen bekannte Gefühl, eine Außenseiterin zu sein, „nicht ganz dazuzugehören.

Manchmal war sie sich vorgekommen wie von einem anderen Stern.“ Das erleichtert wohl auch ihre intensive Freundschaft zu Semira, Tochter einer (allerdings zersplitterten) syrischen Flüchtlingsfamilie, die sie in der Oberstufe ihres Linzer Gymnasiums getroffen hat. Die beiden werden ein unzertrennliches Paar, und durch Semiras Erfahrung lernt Lisa die intensive europäische Ablehnung von Flüchtlingen und ihre vielfältigen Zwangslagen beginnend mit der Flucht und dem bangen Warten am Budapester Ostbahnhof im Spätsommer 2015 kennen. Davon handeln auch einige von Lisas literarischen Texten, eine Mischung von Lyrik und Prosa, emotionaler Betroffenheit, Abscheu und Protest.

Die beiden Stränge des Romans kommen erst am Schluss zusammen, als Semira, die in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgeschoben werden soll, untertaucht und bei Lisa Zuflucht sucht. Auf der Suche nach einem diskreten Ort bis zur Einschaltung eines Rechtsbeistands bietet es sich natürlich an, „bei Roch um Asyl anzusuchen. Was lag denn näher?“ Hier wird sie so schnell niemand finden. Dass Roch bei ihrem Eintreffen gerade von der Rettung abgeholt und vermutlich sterben wird, ist traurig, stellt aber eine symbolische Ablöse dar. Diese Symbolik ist allerdings nach dem schnellen Ende des Romans noch zu reflektieren.

Krieg, Vertreibung und Exil

Ist es lediglich der unzugängliche, außerhalb der Zeit existierende Raum des Depots, der es Lisa ermöglicht, Semira in Sicherheit zu bringen, bis Rechtsbeistand eingeholt werden kann, oder ist auch seine Funktion als literarischer Arbeitsplatz und sein bibliothekarischer/archivarischer Inhalt von Relevanz? Auf welche Weise stehen die Fragmente der Autorenbiografien in Rochs Buch in Beziehung zum Flüchtlingsdrama des neuen Jahrhunderts?

Natürlich liegen da die Handlungen und Schicksale dieser Autoren in Krieg, Vertreibung, Exil und politischen Umstürzen, Bücherverbrennungen nicht zu vergessen, nicht fern. Aber die Bezüge gehen darüber hinaus. Das Potenzial des Archivs und die Zerstörung der literarischen Ordnung des Manuskripts bestätigen gleichzeitig den Zusammenhang von allem mit allem. Das riesige diskursive und intertextuelle Netzwerk, das der Roman bietet, ist nicht nur Symbol, sondern auch Handlungsanleitung.

Aus dem Verständnis des Gesamtzusammenhangs der Welt entwickelt sich die Verantwortung der jungen Protagonistin Lisa. Dieses Verständnis einer Welt aus Literatur, die Unruhe erzeugt, damit man sich nicht mit dem Bestehenden zufrieden gibt, ist Voraussetzung für neue Ordnungen. Frei nach Musil: „Assoziationen über das, was man für möglich, und das, was man für unmöglich hält. Über den Wirklichkeitsund den Möglichkeitssinn. Darüber, dass alles auch ganz anders sein könnte, als es ist. Und ganz anders gewesen sein könnte, als es war.“

Assoziative Referenzen

Bleibt noch die Frage, wie man mit der mehrmals erwähnten angeblichen literarischen Abstinenz der jungen Generation umgeht, ihrer „Gesichts- und Geschichtslosigkeit“. Selbst die etwas bücherbewusstere Lisa kann mit manchen Namen, die hier dutzendweise auftreten, nichts anfangen. In dem schlussendlich gefundenen Romanbeginn verweist Musil auf den Revolutionsgardisten und „Kollegen“ Kisch – zum Drüberstreuen legt ihm Roch (Henisch) dann noch eine Jandl-Zeile in den Mund. Das ist ein starkes Stück Intertextualität. Aber die Chance, Literatur über solche „assoziativen“ Referenzen in das Bewusstsein junger Leser und Leserinnen zu bringen, nachdem große literaturgeschichtliche Kompendien offenbar ausgedient haben, scheint mir nach der Lektüre dieses vielschichtigen und mit großer Leichtigkeit geschriebenen Romans literaturpädagogisch durchaus bedenkenswert.

Lesung

Buchpräsentation

Alte Schmiede Wien, 23. Sept., 19 Uhr
www.alte-schmiede.at

Peter Henisch Jahrhundertroman - © Foto: Residenz
© Foto: Residenz
Literatur

Der Jahrhundertroman

Roman von Peter Henisch
Residenz 2021 287 S., geb., € 24,–

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