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Ein Spiel der Anspielungen

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Hegel hörte den Kanonendonner der Schlacht von Jena, als er seine „Phänomenologie des Geistes” schrieb, Georg Lukäcs hatte den verhallenden Schlachtenlärm des Ersten Weltkriegs noch im Ohr, als er seine „Theorie des Romans” entwarf, und Robert Menasse vernahm vielleicht das etwas'leisere Abbröckeln der Berliner Mauer, als er den letzten Teil seiner Romantri-logie zu schreiben begann. (Ein Stipendium hatte dem Autor 1993/94 einen fast einjährigen Berlinaufenthalt ermöglicht.)

Kein Wunder also, daß Menasses jüngster Boman just 1989, zur Zeit der Wende, spielt. Nicht nur die Zeit, in der die Erzählung spielt, sondern auch der Titel entstammt dem Tagesgeschehen. „Schubumkehr”, so der Titel, bedeutet hier nicht eine Flugzeugkatastrophe, sondern zitiert einfach Niki Laudas Erklärung für ein verheerendes Phänomen: „Wenn sich die Schubumkehr unerwartet einschaltet, dann hat man die Vorwärtsbewegung und die Bückwärtsbewegung gleichzeitig -da muß es ja alles zerlegen.”

Dies soll auch als Hintergrund für Menasses jüngsten Boman gelten, für die Spannung zwischen dem Drang nach Fortschritt und der Rückwärtsbewegung des Protagonisten, freilich nicht nur dafür.

Roman Gilanian führte bereits durch Menasses ersten Roman „Sinnliche Gewißheit” (1988). Im Drei Jahresrhythmus erschienen die Bände „Selige Zeiten, brüchige Welt” (Residenz Verlag 1991), eine poetische Aufarbeitung der „Theorie des Romans” von Georg Lukäcs, und nun schließlich im Februar dieses Jahres „Schubumkehr”. Für das Manuskript wurde der Autor bereits mit dem Marburger Literaturpreis 1994 ausgezeichnet.

Fragt man Robert Menasse heute, wie er, der 1954 geborene Sohn des Fußballers Hans Menasse, zum Schriftsteller wurde, bekommt man als Antwort, daß die beste Alternative zu „einem Fußballer rechts außen der Philosoph links außen” sei. Diese Figur sollte auch an der Wiege

von Menasses ersten Romanen stehen, einmal in der Gestalt Hegels und einmal in jener von Georg Lukacs.

Menasse schloß sein Studium an der Universität Wien (Deutsche Philologie, Geschichte und Philosophie) mit einer Dissertation über das Thema „Der Typus des Außenseiters' im Literaturbetrieb (am Reispiel Hermann Schürrer)” bei Professor Wendelin Schmidt-Dengler ab. Nach seiner Promotion wandte sich der junge Doktor der Philosophie dem Schreiben zu, doch seine ersten Romanversuche wurden von einem Angebot, an der Universität Säo Paulo ein Lektorat für österreichische Literatur zu übernehmen, jäh unterbrochen. Sechs Jahre sollte sein Aufenthalt in Brasilien dauern, 1987 - er war mittlerweile als Gastassistent für Literaturtheorie tätig - beschloß er, nach Wien zurückzukehren, wo zwei Jahre später sein erster Roman erschien, in dem - verkürzt gesagt - Roman Gilanian, Gastassistent in Rrasilien, Hegels Phänomenologie des Geistes durch Leo Singer näher kennenlernt. Diese Figur, Singer, avanciert im nächsten Roman, „Selige Zeiten, brüchige Welt”, zur Hauptfigur und will die Philosophie zu Ende denken.

Fiktive Philosophen

An der Seite seiner kongenialen Partnerin Judith Katz rekonstruiert er im wahrsten Wortsinne Hegels Phänomenologie, doch doziert er nicht vom Katheder eines Hörsaals aus, sondern vor den Spiegeln der „Bar jeder Hoffnung” in Säo Paulo. Als er entdeckt, daß Judith Katz seine Theorien aufgezeichnet hat, erschießt er sie und veröffentlicht das Manuskript unter dem Titel „Phänomenologie der Entgeisterung”. (Wieder einmal leitet Gewehrfeuer die Geburtsstunde eines neuen Werkes ein.)

Unter dem Pseudonym Singer erschien dieser Text tatsächlich erstmals 1991 in der Literaturzeitschrift „manuskripte”. Vor einigen Wochen ist „Singers” Schrift unter Bobert Menasses Namen bei Suhrkamp als Taschenbuch erschienen. Keinesfalls als Anhang zu einem großen Roman will dieses schmale Bändchen ange-

sehen werden (es ist Judith Katz gewidmet), sondern als Brücke zwischen den poetischen Hegel- und Lukäcsbearbeitungen und Menasses neuem Boman, einem Versuch, der sogenannten Wende buchstäblich mit der Video-Kamera aufzulauern.

Schauplatz des Romans ist diesmal nicht Säo Paulo, auch nicht Wien, sondern Komprechts, ein kleines Nest an der österreichisch-tschechischen Grenze. Doch wäre es natürlich nicht Robert Menasse, wenn er sich schlicht auf das Genre des Provinzromans beschränkte. Indes mutet „Komprechts” nicht nur wie eine Übersetzung des Schauplatzes von Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit” an, sondern die Geschichte will auch als solche Suche gelesen werden.

Dennoch entspricht Menasses Roman auf den ersten Blick den Bedingungen des österreichischen Provinzromans, in dem ein Individuum, ein Außenseiter, zurückkehrt oder in die dörfliche Gemeinschaft eindringt. Meinen wir uns am Beginn auf unsere Leseerfahrungen verlassen zu können und bereits altbekannte Szenen und Motive oder gar Sätze wiederzuerkennen, belehrt uns der Autor eines besseren. In weiser Voraussicht stellt er dem ersten Teil einen Aphorismus Franz Josef Czer-nins voran, der jeden Dejä-vu-Effekt sofort wieder obsolet erscheinen läßt: „Wenn wir glauben, etwas wiederzuerkennen, sind wir nur besonders vergeßlich.” So erinnern wir uns also bloß vermeintlich an Thomas Bernhards „ Theatermacher”, wenn gleich zu Beginn des Bomans die Theateraufführung in der Komprechtser Mehrzweckhalle durch Bufe „Es brennt!” jäh unterbrochen wird. Da jedoch diesseits der Grenze kein Brandherd zu finden ist, muß es jenseits der Grenze lodern.

Der Löschwagen der freiwilligen Feuerwehr durchbricht in voller Fahrt den Balken der tschechischen Grenze. Die Situation steigert sich ins Groteske, als die Löschmannschaft nicht in der gewohnten Uniform, sondern in Theaterkostümen den Grenzsoldaten gegenübersteht, allen voran der Bürgermeister im Kostüm des Grafen Wenzel. Zu löschen gibt es jedoch auch hier nichts, das Lodern stammt von einem Nordlicht.

Video als Erzählperspektive

Neun Monate später wird der Eiserne Vorhang geöffnet.

In einer Art von außenpolitischer Klammer, die nicht ohne Wirkung auf das Dorf bleibt, werden die Ereignisse der dazwischen liegenden neun Monate durch Roman Gilanian vermittelt. Buchstäblich mit dem Camera-Eye, nämlich mit der Videokamera, pirscht sich der Erzähler an die Geschichten der einzelnen Dorfbewohner heran. Dabei sieht es der Autor nicht als seine Aufgabe, die Figuren stets in der Totalen zu zeigen, sondern streift sie mit dem Camcorder, nur selten zeigt er sie in Großaufnahme. Das Resultat ist eine Sammlung kurzer Videoclips, die, ineinander verwoben, mehrere Geschichten in Fortsetzung erzählen und so ein verdichtetes österreichisches Panoptikum liefern, das in der Tat weit über die rot-weiß-roten Grenzen hinausreicht.

Ebenso wie die Ortschaft Komprechts als typisch österreichische gelten will, mit einem roten Bürgermeister und einem schwarzen Vizebürgermeister, einem Dorflehrer mit grünen Ambitionen, der glaubt, mit seinen Theaterstücken auch eine gesellschaftskritische Funktion übernehmen zu müssen, was ihn letztendlich mit dem Gesetz in Konflikt

bringt, wollen auch die Bewohner als typisch österreichisch gelten. So zum Beispiel der Bürgermeister König (Nomen est omen), dessen Vater 1938 den tschechischen Namen Kral eindeutschen ließ. Er hat sich denn auch, als 1988 die neuen Nummerntafeln in Österreich eingeführt wurden, „KING 1” für seinen Mercedes bestellt. Was liegt da näher, als den Zusatz „KONG” hinzuzufügen? Daß Menasse auf solche Spielereien nicht verzichtet, mag als Zutat angesehen werden, die der Lesbarkeit des Romans zugute kommt.

Einer '„Königsidee” ist es schließlich zu verdanken, daß der Ort nicht länger durch seine defizitäre Glasfabrik dem Verfall anheim gegeben wird, sondern durch „sanften Tourismus” gerettet werden soll. Erstes Opfer dieses Konzepts scheint Frau Nemec, die Witwe eines Steinbrucharbeiters, zu werden, deren Haus zu einem Steinbruchmuseum umgebaut werden soll. Als Erbin von drei Engeln ihres Bruders, des Steinmetzen Franz Zahradnik (den wir bereits aus „Selige Zeiten, brüchige Welt” kennen), wird sie nach deren Beseitigung durch die Gemeinde selbst zum Racheengel. Nicht genug, daß sie ihr Haus aufgeben soll, ist auch im Vorstand des örtlichen Seniorenklubs kein Platz mehr für sie, denn dieser präsentiert sich nun als „junges Team”.

Sie vergiftet den Bürgermeister mit einer Pilzsauce just am selben Tag, an dem sein Sohn mit einem tschechischen Mädchen, dessen Kleid er trägt, verwechselt und von den Dorfbewohnern erschlagen wird.

Über all diesen Geschichten steht jedoch die des Protagonisten und Vermittlers Boman, von seiner Mutter zärtlich „Romy” genannt.

Sie ist letztendlich der Grund für seine Anwesenheit in Komprechts. Als sie ihrem Sohn, der sich seit längerer Zeit in Brasilien aufhielt, von ihren neuen Plänen schrieb, und daß sie einen um fast 15 Jahre jüngeren Mann heiraten und gemeinsam mit ihm eine Biobauern-Existenz auf dem Land führen werde, macht sich der Erzähler postwendend auf den Weg in die Heimat.

Seine Begression in die Kindheit scheint unaufhaltsam. Auch wenn wir uns an Gerhard Fritschs Roman „Fasching” erinnert fühlen, in dem die intime Beziehung zwischen dem Helden und seiner mütterlichen Retterin in allen nur erdenklichen Schattierungen aufgefächert wird, werden wir doch ermahnt, uns auf den Autor zu konzentrieren, wenn er

schreibt: „Er fragte sich, warum es Menschen Wollust bereitete, etwas wiederzukennen, das sie zum ersten Mal sahen.”

Da gleich zu Beginn Bomans Reisepaß dem Heißhunger des Ziegenbocks im heimatlichen Stall zum Opfer fällt, scheint Romans Weg vorprogrammiert.

Umgeben von nichts als Natur und mütterlicher Fürsorge, schreitet der Anti-Held buchstäblich auf das natürliche Bewußtsein zu, was nichts anderes heißt, als daß er die erste Bewußtseinsstufe nach Hegel, also die sinnliche Gewißheit, verlassen wird.

Theatrum Austriacum

Wenn er auch noch im samtbraunen Schlafrock des nunmehrigen Ex-mannes seiner Mutter auftritt, gleicht er nicht nur seinem einstigen Lehrmeister Leo Singer, der wiederum ihm bei ihren Gesprächen als Naphta (aus Thomas Manns „Zauberberg”) gegenübergetreten ist. Als solcher erkennt er schließlich, daß er im elterlichen Schlafzimmer an der Seite seiner Mutter keine Zukunft hat und flieht in letzter Minute vor der endgültigen Begression in die Kindheit nach Brasilien.

Statt seliger Zeiten bleibt hinter ihm nur noch eine brüchige Welt in Trümmern zurück.

Die Vorzüge dieses Romans aufzuzählen, würde noch einmal die Länge des ganzen Buches in Anspruch nehmen. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, diese kurz zusammenzufassen. Zum einen dürfen Menasses Wortspielereien nicht ungenannt bleiben, exemplarisch ist dabei schon die Wahl der Namen, wie Boman, der zugleich auch die literarische Gattung bedeutet. Zum anderen ist es auch Menasses Umgang mit Symbolen, er weiß eine Ansammlung von L-Häu-sern ebenso zu deuten wie eine Phalanx von Hochsitzen.

Dies macht das kleine Dorf Komprechts zum Repräsentanten für ein theatrum austriacum, an dem Menasse seine akribische Studie unseres Landes poetisch aufzuarbeiten versteht.

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