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„Ihr Ende ist unausweichlich“

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Solschenizyn, Bukowski, Sinjawski, Daniel, Martschenko, Levitin-Krasnow: diese Namen repräsentieren heute offenen geistigen Widerstand gegen den. Totalitarismus in der Sowjetunion. Unter dem Titel „Die Stimme der Stummen“ ist vor kurzem aus der Feder von Cornelia Gerstenmaicr die erste zusammenfassende Darstellung der Bürgerrechtsbewegung in der Sowjetunion erschienen (Seewald-Verlag, Stuttgart), unterbaut mit 170 Seiten Dokumentation aus dem russischen Samisdat („Selbstverlag“) in deutscher Sprache. Mit freundlicher Erlaubnis des Verlages entnehmen wir der Dokumentation eine Schrift des 1971 im Gefängnis von Kirow gestorbenen Mathematikprofessors Boris V. Talantow über die KPdSU als „neue Klasse“.

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Solschenizyn, Bukowski, Sinjawski, Daniel, Martschenko, Levitin-Krasnow: diese Namen repräsentieren heute offenen geistigen Widerstand gegen den. Totalitarismus in der Sowjetunion. Unter dem Titel „Die Stimme der Stummen“ ist vor kurzem aus der Feder von Cornelia Gerstenmaicr die erste zusammenfassende Darstellung der Bürgerrechtsbewegung in der Sowjetunion erschienen (Seewald-Verlag, Stuttgart), unterbaut mit 170 Seiten Dokumentation aus dem russischen Samisdat („Selbstverlag“) in deutscher Sprache. Mit freundlicher Erlaubnis des Verlages entnehmen wir der Dokumentation eine Schrift des 1971 im Gefängnis von Kirow gestorbenen Mathematikprofessors Boris V. Talantow über die KPdSU als „neue Klasse“.

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... In früheren Zeiten erstreckte sich die Machtausübung der herrschenden Klassen auf die Bereiche von Politik und der administrativen Verwaltung, und teilweise auch auf die Wirtschaft, soweit sich das im privaten Untemehmungsbereich anbot. Die in der ganzen Welt wie auch in der Sowjetunion gemachten Erfahrungen lehren, daß Privatunternehmen auf den Gebieten der Landwirtschaft, des Handwerks sowie meistenteils auch der Dienstleistungsbetriebe, den Staatsunternehmen überlegen sind (sie bieten der Allgemeinheit höhere Leistungen und Vorteile zu niedrigeren Preisen). Insbesondere die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in der Landwirtschaft (Zwangskollektivierung), in den Handwerksbetrieben und im gesamten Bereich der Dienstleistuingsunternehmen (Handel, Transport, Handwerk) haben diese Wirtschaftszweige zum Abstieg auf ein niedrigeres Niveau geführt. Die totale Vergesellschaftung der Produktionsmittel führt aber den Bürger der UdSSR in absolute Abhängigkeit von der Regierung, denn außer durch Arbeit in staatlichen Unternehmen hat er keinerlei Möglichkeit, Existenzmittel zu erwerben.

Und so verbleibt die KPdSU — dank der totalen Beherrschung sämtlicher Produktionsmittel — und durch ihre Monopolstellung in der Verfügungsgewalt über diese Mittel sowie durch Umbringung jeglicher Privatunternehmungen, ganz gleich, in welchem Bereich —, bei der Verbreitung ihrer Macht nicht nur in der Sphäre von Politik und Verwaltung, sondern sie erfaßt alle Bereiche der wirtschaftlichen Aktivität sowie das geistige Leben der Menschen. Dank dieser allumfassenden Machtstellung der Kommunistischen Partei herrscht in der UdSSR eine allgemeine geistige Sklaverei, denn jeder, der auch nur das Existenzminimum verdienen möchte, muß sich zur Ideologie der Partei bekennen. Worauf gründet sich die unbegrenzte Machtstellung der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion?

Die verantwortlichen Posten in Regierung, Administration und Gerichtswesen sind ausnahmslos den Parteimitgliedern vorbehalten, die ihrerseits den entsprechenden Parteikomitees unterstehen. So ergibt sich zwangsläufig, daß Regierung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit letzten Endes und wesentlich unter dem direkten Einfluß der Parteikomitees stehen. So liegt dann die höchste und unbegrenzte Macht in der UdSSR beim Zentralkomitee der KP, oder, präziser ausgedrückt, beim Generalsekretär der KPdSU.

Die unbegrenzte Machtposition der Kommunistischen Partei ist in der UdSSR dadurch fest untermauert, daß das Recht auf die Besetzung der Schlüsselpositionen in Regierung, Verwaltung und Justiz faktisch ein Monopolprivileg der KPdSU ist.

Und der Charakter der Unkontrollierbarkeit, welche die Macht der KPdSU kennzeichnet, worauf beruht dieser? Diese Fundamentierung ist dadurch abgesichert, daß die Arbeitenden nicht die geringste Möglichkeit haben, ihre Forderungen oder ihre Proteste gegen Willkür, Gesetzwidrigkeiten und Vergewaltigung seitens der Parteifunktionäre auch nur zum Ausdruck zu bringen, Dies, weil es keine Dienststelle gibt, die der KPdSU nicht absolut hörig wäre, und auch Presse sowie Rundfunk sich in den Händen des Machtmonopols der KP befinden. Millionen unschuldiger Menschen konnten von den Organen des Staatssicherheitsdienstes (KGB), mit Hilfe eben dieser Unkontrollierbarkeit der KP, in der UdSSR stillschweigend vernichtet werden. Und diese traurige historische Erfahrung zeigt uns, wie gefährdet Menschenleben sein können, wenn Radio und Presse in die Hände der herrschenden Klasse geraten. Im Ausland wird das vielfach nicht richtig verstanden. Darum sollten die Aufrufe von A. Solschenizyn und P. Jakir zum Kampf um die Beseitigung der Zensur und um die Freiheit von Wort und Presse von allen aufrechten Menschen unseres Landes und besonders von allen gläubigen Christen unterstützt werden.

Im Widerspruch zu den geltenden Gesetzen und zur Verfassung wird bei Verwaltung und Justiz weitgehend Anwendung von Geheiminstruktionen und Geheimbefehlen praktiziert. Als Vorbeugungsmaßnahme gegen organisierte Proteste werden sämtliche Sowjetbürger mittels einer riesigen Armee von Informationsträgern des KGB unter Aufsicht gehalten. Seit 1965 ist dieses Heer von Spitzeln stark vergrößert worden. Bei der Anwerbung von Zuträgern wird heute, genau wie schon zu Zeiten Jeschows, Erpressung, Drohung und Bestechung angewandt. Diese Informationsagenten benehmen sich vielfach unverschämt, sie erhalten unverdiente Belohnungen und werden durch schnelle Karriere im Dienst befördert. Im Rahmen dieser Beaufsichtigung wird alle Privatkorrespondenz nicht nur weitgehend kontrolliert, werden die Briefe nicht nur durchgelesen, sondern auch häufig zurückgehalten.

„Die Lüge als der Wahrheit letzter Schluß“

Um eine den Tatsachen entsprechende Informationsmöglichkeit zu unterbinden, werden seit 1967 die Auslandssender gestört. So werden in der Stadt Kirow (früher Wjatka) die Sender Peking, BBC und Die Deutsche Welle gestört. Demagogie, Verleumdung, Meineid und Treulosigkeit, Erpressung und rohe Gewalt gehören zum Rüstzeug der KPdSU — kurz: Die Lüge erscheint hier als der Wahrheit letzter Schluß bei der Auswahl von Methoden der Menschenführung. Darum glaubt auch der größte Teil der Bürger in der UdSSR nichts davon, was in der sowjetischen Presse geschrieben und im sowjetischen Rundfunk ausgestrahlt wird.

Worin liegt nun die Kraft, und worin die Schwäche der Kommunistischen Partei der UdSSR?

Die Stärke der KPdSU liegt in der umfassenden, unbegrenzten und unkontrollierbaren Macht, die es ihr ermöglicht, die Massen unter dem Druck von Pflicht und Schuldigkeit zu halten und die jederzeit ein rasches Unterdrücken jeglichen Protestes erlaubt.

Die Schwäche der KP liegt darin, daß ihre offizielle Ideologie von den breiteren Volksmassen nicht mehr anerkannt wird und nur noch durch organisierte Gewaltanwendung in wirtschaftlicher und administrativer Hinsicht aufrechterhalten werden kann. Es gibt niemanden mehr, der von der Idee des Paradieses der Werktätigen begeistert wäre, von dem heute gesagt wird: „Die Kommunisten betrügen uns mit einem irdischen Paradies, das sie uns für eine Zukunft vorspiegeln, die wir nicht erleben werden; sie selbst jedoch streben danach, sich ein Paradies in der Gegenwart aufzubauen.“

Eine fünfzigjährige Erfahrung zeigt klar und unwiderlegbar die Mängel der sowjetischen Epigonen des Marxismus. Irrtumbeladen erscheinen uns die Lehren vom Absterben von Religion, Staat, Klassen, Ausbeutung angesichts des Resultats, welches die Vergesellschaftung der Produktionsmittel gezeitigt hat. Es ist nun wohl allen klar geworden, daß eine Gemeinschaft nicht ohne Regierung und Regierungsgewalt auskommen kann. Der sozialistische Umbau der Gesellschaft führt bloß zu einer Umschichtung von einer herrschenden Klasse zur anderen. Es ist klar, daß der Internationalismus sich immer wieder unweigerlich in Nationalismus verwandelt. Wie groß auch heute die Macht der Kommunistischen Partei der UdSSR sein mag — ihr Ende ist ebenso unausweichlich und absehbar, wie auch die Zeit der offiziellen Parteiideologie abgelaufen ist, weil sie begonnen hat, als reaktionärer Faktor den Fortschritt zu bremsen.

Die Macht der KPdSU führt in ihrer umfassenden, unbegrenzten Unkontrollierbarkeit einerseits zum moralischen Verfall ihrer Mitglieder, und anderseits erzeugt sie einen Antagonismus zu den rechtlosen, außerhalb der Partei stehenden Massen. Die Masse des Volkes sieht nämlich heute in den Führern der Partei — wie sehr sie sich auch als Vertreter des Volkes aufspielen mögen — bloß noch die Anführer einer herrschenden Schicht, die sich mehr und mehr zu einem volksfeindlichen Faktor wandelt.

I. V. Stalin begann zwecks Fundamentierung seiner Macht und seiner ehrgeizigen Eroberungsziele, den „Sowjetischen Patriotismus“ verstärkt zu propagieren, indem er betonte, das russische Volk müsse die Völkerschaften der Sowjetunion als „älterer Bruder“ führen. Auf diese Weise macht er das russische Volk zu einer Waffe zur Unterdrük-kung der übrigen Völker der Sowjetunion. Dieser selbstherrliche Chauvinismus wird auch heute im stillen unter der Maske eines „sowjetischen Patriotismus“ propagiert. Und diesen verlogenen Hurra-Patriotismus nutzend, rechnete „der Vater der Völker“ gnadenlos und grausam mit jenen Völkern ab, die sich sein Mißtrauen zugezogen hatten. Im Jahre 1940 wurden zahllose Polen, Litauer, Letten und Esten in die nördlichen Waldgebiete der UdSSR deportiert, wo unzählige von ihnen ein frühes Grab gefunden haben. Im Jahre 1944 wurden die krimtatarische und andere autonome Sowjetrepubliken blitzartig liqidiert. Wiederholt wurde von oben her der Antisemitismus geschürt. Die KPdSU unterdrückte- und unterdrückt jeden Ansatz einer nationalen Bewegung, die Eigenständigkeit und Gleichberechtigung anstrebt.

So und nicht anders präsentiert sich der „sowjetische Patriotismus“, wie er wirklich ist.

Die menschliche Gesellschaft ist auf der Suche nach neuen sozialen und politischen Zielen. Die schöpferische Geisteskraft der Vorkämpfer der Menschheit muß heutzutage darauf konzentriert sein, Ideen zu entwickeln, die das Ideengut des offiziellen sowjetischen marxistisch-leninistischen Stalinismus — dessen Brüchigkeit bereits von allen zugegeben wird — ersetzen können.

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