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Die KSZE und der Fortschrittsglaube

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Kommunisten sonnen sich in der unbeweisbaren Heilsgewißheit, daß die Geschichte mit unwiderruflicher Gesetzmäßigkeit den Menschen aus der kapitalistischen Ausbeutung erlösen und in das Paradies der klassenlosen Gesellschaft führen werde. Augenscheinlich aber klemmt das Getriebe dieser von Marx entdeckten Gesetzmäßigkeit. Schließlich konstruieren sowjetische Ideologen unermüdlich neue Unter-Etappen auf dem Weg zur Idealgesellschaft, um den zwangsläufigen Fortschritt wenigstens millimeterweise zu belegen.

Doch die gesellschaftlichen Errungenschaften des sozialistischen Lagers wollen nicht bis zum Absterben des Staates und zum kommunistischen Paradies gedeihen, das Marx einst so beschrieb: „.. .wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ Eine hinreißende Vorstellung, diese selbsttragende und hochindustrialisierte Gesellschaft von Dilettanten.

Wiewohl noch Äonen vor diesem Paradies liegen, „wissen“ Kommunisten, daß es unausweichlich über uns kommen wird. Wer sich also diesem Höhenflug nicht anschließt und sich mit zweitbesten Lösungen zufrieden gibt, ist daher ein kapitalistischer Reaktionär, der gesellschaftspolitisch hinter dem Mond lebt, obschon er den Mondflug geschafft hat.

Dieser Blitz-Abstecher in die Ideologie erläutert, warum regierende Kommunisten ideologische Koexistenz ablehnen, auch wenn sie ökonomische Koexistenz zum Erwerb kapitalistischer Technologie unbedingt brauchen. Folglich stellt sich die KSZE als untauglicher Versuch dar, die Quadratur eines politischen Kreises zu finden.

Diese Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit

(KSZE) mag sehr wohl „vertrauensbildende Maßnahmen“ und wirtschaftliche Kontakte fördern, doch zu jener Konvergenz reicht es nicht, die vor einem Jahrzehnt politische Träumereien beflügelte. Denn die Jünger der marxistischen Heilsgewißheit beharren auf ihrem Dogma und also auf der Unfähigkeit, sich mit zweitbesten Lösungen abzufinden.

Das schlägt dort schwer zu Buche, wo es erst ideologisch und dann politisch zählt: Im „Überbau“, in dem beispielsweise die Rechtsprechung die gesellschaftliche Wirklichkeit spiegelt.

Am 26. September 1968 veröffentlichte die Moskauer „Prawda“ die sogenannte Breschnjew-Doktrin von der beschränkten Souveränität kommunistischer Staaten. Dort heißt es, „daß es in einer Klassengesellschaft keine klassenlosen Rechte gibt und geben kann. Gesetze und Rechtsnormen sind Objekte der Gesetze des Klassenkampfes... Eine formale juridische Argumentation ... verliert das einzige korrekte klassenmäßige Kriterium in der Bewertung legaler Normen und beginnt, Ereignisse mit dem Maßstab bourgeoisen Rechtes zu messen“.

Weil nun in der UdSSR angeblich die Arbeiterklasse regiert, gilt dort auch ausschließlich ihr Klassenrecht. Folgerichtig fehlt die Voraussetzung dafür, das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit uneingeschränkt zu gewähren. Denn dieses Recht schlösse die Freiheit ein, daß Vertreter zweitbester und noch schlechterer Gesellschaftspolitik -beispielsweise der Bourgeoisie - in der UdSSR die offizielle Heilsgewißheit in Frage stellen. Das aber träfe die Führung just jener Partei, die sich dank ihrer Einsicht in geschichtliche Gesetzmäßigkeit als Vorhut der Arbeiterklasse auf dem Weg in das Paradies versteht.

Aus dieser Sicht stimmt natürlich auch das Argument, daß die Kritik an Verstößen gegen die Menschenrechte in der UdSSR eine unzulässige „Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten“ sei. Vereinfacht: Wer die UdSSR kritisiert, stellt sich gegen den Gang der Geschichte; der Kreml jedoch begünstigt den Lauf historischer Gesetze, wenn er Anti-kommunisten, Imperialisten und Reaktionäre anprangert, um sie von den irregeführten Werktätigen zu isolieren.

Nach kommunistischer Heilslehre ist daher freie Konkurrenz von Ideen glattweg absurd, denn „objektiv“ spiegeln Ideen die Zugehörigkeit zu einer Klasse. Weshalb die einzig richtige Idee der von der Geschichte zur Befreiung der Menschheit auserwählten Arbeiterklasse auch die Konkurrenz aller anderen falschen Ideen aus dem Felde schlagen muß.

f( elbst der angeblich liberalste aller sogenannten Eurokom-munisten, der spanische KP-Chef Carrillo, verficht prinzipiell diesen Standpunkt, wenn er als Ziel setzt: „Die sozialistische Revolution im kapitalistischen Westen muß die Vernichtung sowie die politische und soziale Beseitigung der Ausbeuterklasse sein.“ Oder wenn er proklamiert: „Man kann nicht an die Veränderung der Gesellschaft denken, ohne an die Macht des Staates zu gelangen, ohne daß die Arbeiter sich zur hegemonischen Kraft in der Gesellschaft erheben.“ Oder wenn erfordert, daß „die Kräfte der Veränderung einen Kampfaus dem Inneren der heute bestehenden ideologischen Apparate der Gesellschaft entfesseln“ müssen.

Wie verträgt sich da „Hegemonie“ mit dem Bekenntnis zu demokratischem Pluralismus oder mit den „Garantien“ Berlinguers, Carrillos und Marchais' für den demokratischen Rechtsstaat? Kann ein erklärter Marxist-Leninist überhaupt „bourgeoises Recht“ garantieren, wenn es nach den Gesetzen des historischen und des dialektischen Materialismus zwangsläufig „aufgehoben“ wird?

Indessen kritisiert das eurokommunistische Triumvirat zuweilen höchst publikumswirksam „gewisse Erscheinungen“ im Ostblock - in der Regel erst dann, wenn Menschenrechtsverletzungen mit Händen zu greifen sind. Ansatz zu ideologischem Revisionismus? Sicher nicht. Denn noch immer harrt Togliattis berühmte Frage der schlüssigen Antwort: War der Stalinismus lediglich „Personenkult“ oder aber Ergebnis eines Konstruktionsfehlers im ideologischen System?

£>q elbst die Eurokommunisten wagen sich nicht an einen Konstruktionsfehler heran, weil er einen ebenso unerklärlichen wie verheerenden Betriebsunfall der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit bewiese und damit der kommunistischen Heilsgewißheit den Boden entzöge. Dann allerdings stünde der Weg zur Einsicht offen, daß Trotzki doch recht hatte mit seiner Vorhersage über Lenins Partei: „Die Parteiorganisation tritt an die Stelle der Partei, das Zentralkomitee tritt an die Stelle der Parteiorganisation, und schließlich tritt der Diktator an die Stelle des Zentralkomitees.“

Solange nichts diesen Befund entkräftet, bleibt die KSZE sich selbst treu: Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sofern „bourgeoises Recht“ jeden Versuch unterläßt, den zwangsläufigen Fortschritt der sozialistischen Staaten zur klassenlosen Gesellschaft zu stören.

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