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Marxismus, marxistisch gesehen

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Die Weltanschauung des dialektischen Materialismus, wie sie von Marx verkündet und von seinen Jüngern gedeutet wurde, geht von der Feststellung aus, daß nur das Materielle wirklich sei. Friedrich Engels, der Kämpfend Weggefährte Marxens, sagt, daß „die stoffliche, sinnlich wahrnehmbare Welt, zu der wir selbst gehören, das einzig Wirkliche“ ist (F. Engels: „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“). Und Marx sagt in seinem 1873 abgefaßten Nachwort zur zweiten Auflage von „Das Kapital“: „Bei mir ist ... das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ Die Welt einschließlich der Menschheit ist nur Natur. Alles Sein und Werden ist in Naturgesetz-lichkeiten gebunden. So faßt denn Marx „die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß“ auf (Vorwort zur ersten Auflage Ton „Das Kapital“, 1867). Marx spricht von „ökonomischer Gesellschaftsformation“, weil er unter allen materiellen Kräften, die das Sein und Werden der Menschheit bestimmen, die ökonomischen, wirtschaftlichen als die gegenwärtigsten und kräftigsten ansieht. Diese Betonung des Gewichtes der wirtschaftlichen Kräfte und Zustände bringt auch Engels zum Ausdruck, wenn er in seiner Einleitung zum „Anti-Dühring“ sagt, daß ,,die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbin der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und onstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären s i n d“.

Wenn demnach nur das Materielle wirklich ist, alles Werden und Vergehen sich im Banne der Naturgesetze vollzieht und die stärksten dieser naturgebundenen Kräfte die ökonomischen sind, kann es uns nicht wundern, daß Marx es als den letzten Endzweck eines Hauptwerkes bezeichnet, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“.

Der Vollständigkeit halber und um unteren eigenen Standpunkt zu klären, sei darauf hingewiesen, daß die Grundthesen dieser Lehre, die uns von ihren Schriftgelehrten mit einer gewissen handgreiflichen und primitiven Rationalität als der gesunden Vernunft entsprechend vorgetragen werden, durchaus im Irrationalen wurzeln. Wenn die Propheten und Jünger der Lehre, die wir hier skizzieren, sagen: Hier, dieser Stein ist wirklicher als deine Gedanken darüber, so müssen wir dem entgegenhalten, daß das Erlebnis des freien, gestaltenden Wollens der Mensdien, welches im Lehrgebäude des Materialismus keinen Raum hat, doch mindestens ebenso wirklich ist wie das Erlebnis der materiellen Existenz.

Soweit unsere Einschaltung. Wir fahren In der Skizzierung der Lehre des dialektischen Materialismus fort. Sie sieht als das Entwicklungsgesetz der Natur und damit der Menschheit den dialektischen Prozeß an. Der Begriff ist der Philosophie Hegels entnommen, doch steht die Dialektik dort, wie Marx meint, auf dem Kopf. „Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.“ Diese „Umstülpung“ der Hegeischen Bewegungsformen ergibt, daß alle Entwicklung sich in Gegensätzen vollzieht. „Im eigentlichen Sinn ist die Dialektik“, sagt Lenin, „die Erforschung der Widersprüche im Wesen der Dinge selbst“ (Lenin, „Aus dem philosophischen Nachlaß“), und „Entwicklung ist Kampf der Gegensätze“ (Lenin, „Ausgewählte Werke“). Stalin knüpft an diese Äußerungen die Betrachtung an, „daß der Prozeß der Entwicklung ... nicht in Form einer harmonischen Entfaltung der Erscheinungen verläuft, sondern in Form eines

Hervorbrechens der Widersprüche, die den Dingen und Erscheinungen eigen sind, in Form eines „Kampfes“ gegensätzlicher Tendenzen, die auf der Grundlage dieser Widersprüche wirksam sind“ (J. Stalin, „Über dialektisdien und historischen Materialismus“). Im Entwicklungsprozeß der menschlichen Gesellschaft sind diese „Widersprüche“ und „gegensätzlichen Tendenzen“ die Gegensätze der Klassen. „Alle bisherige Geschichte“ ist nach Engels „die Geschidite von Klassenkämpfen“ („Anti-Dühring“). Die Zwangsläufigkeit gesellschaftlichen Geschehens, die sich aus der Wirksamkeit dieser gegensätzlichen Kräfte ergibt, ist das Leitmotiv des Kommunistischen Manifests (Marx-Engels, 1847). Die Vorstellung ist die, daß ein historisch gegebener gesellschaftlicher Zustand in sich schon die Kräfte entwickelt, die diesen Zustand überwinden. „Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudal-' Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon- entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt. An ihre Stelle trat die freie Konkurrenz mit der ihr angemessenen gesellschaftlichen und politischen Konstitution, mit der ökonomischen und politischen Herrschaft der Bourgeoisklasse. Unter unseren Augen geht eine ähnliche Bewegung vor. Die bürgerlicher. Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft ... gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor.“ Und: „Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats.“ Die bürgerliche Gesellschaft produziert ihre eigenen Totengräber. Sie weckt die proletarische Revolution.

An dieser Stelle erleidet die zwar von falschen Voraussetzungen ausgehende, bis hierin jedoch konsequent fortgeführte Gedankenreihe der Gesellschaftslehre des dialektischen Materialismus einen entscheidenden Bruch. Um dessen Ursache und Tragweite zu verstehen, halten wir uns das Idealbild der sogenannten klassenlosen Gesellschaft vor Augen. Die Lehre Marxens ist in ihrer ganzen Wucht und Tiefe als eine Heilslehre angelegt. Das Erlösungssehnen der im Elend lebenden Massen ist das sie tragende und ihr Kraft spendende Element. Der metaphysische Glaube an ein Reich Gottes ist in dieser Heilslehre verweltlicht. Das Paradies ist in die materielle Welt hereingezwungen. Sie bekommt dadurch etwas von dem Glanz des Glaubens an eine überwirkliche Seligkeit. Nur wenn wir dieses Wesenselement der Marxschen Lehre klar erkennen, können wir ihre Wirkung auf die Massen verstehen. Mit der Qualifikation als Heilslehre ist jedoch die folgerichtige Fortführung der Gedankengänge des dialektischen Materialismus unvereinbar. Sie würde bedeuten, daß der Phase der Überwindung der bürgerlichen Ordnung durch die proletarische Revolution sich eine -neue Phase anschließt, die auch die durch diese Revolution geschaffene Ordnung wieder in Klassenkämpfen vernichtet und so fort bis an a\& Ende der Zeiten. Keine verlockende Aussicht für eine heilssehnsüchtige Masse, von der noch dazu eben diese Revolution schier unmenschliche Opfer fordert. Und kein geeignetes Mittel, um der proletarischen Revolution die für ihren Durchbrudi nötige Dynamik zu verleihen. Wollte die Lehre Marxens die Wucht und Gewalt einer Heilslehre in sich tragen, so konnte sie auf den Glauben an em Paradies auf Erden nicht verzichten. Dieses Paradies aber müßte das Ende aller Ausbeutung, aller Kämpfe sein, also das Idealbild der klassenlosen Gesellschaft verwirklichen. Hier aber bricht die Logik des Systems ab. Nichts deutet darauf hin, daß Marx die Inkonsequenz in seiner Gedankenführung bewußt vollzog. Auch er war nur ein Kind seiner Zeit, lebte und dachte in ihren Strömungen hin. Das Charakteristikum der Klassenbildungen seiner Zeit war das Eigentum an den Produktionsmitteln. Es ist verständlich, daß er glaubte, mit der Beseitigung dieses Privateigentums die Gesellschaft auch von den Klassengegensätzen zu befreien. Warum sollte er die Funktion des Eigentums erkennen, Eigentum als Funktion verstehen, wo doch nicht einmal dessen Träger zu solchem Verständnis vorgedrungen waren? Er war eben nicht nur das Kind seiner Zeit, sondern auch der Stiefbruder des Liberalismus. Sein Paradies auf Erden, die klassenlose Gesellschaft, ist eine Utopie. Wenn es noch Engels-Marxens Grundgedanke war, „daß dieser Kampf (der Klassenkampf) ... jetzt eine Stufe erreicht hat, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien“, so wollen wir an der subjektiven Ehrlichkeit: der beiden nicht zweifeln. Dennoch enthalten die Worte „für immer“ nicht mehr als eine — damals — durch nichts bewiesene Behauptung. Heute ist ihre Unrichtigkeit vielfältig belegt. Jede Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, gleichgültig ob diese auf privatem oder öffentlichem Recht beruht, trägt den Keim zu Klassenbildungen in sich. Das hat wohl schon Engels undeutlich empfunden, als er im „Anti-Dühring“ schrieb, daß „je mehr Produktivkräfte er (der Staat) in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr

Staatsbürger beutet er au s“. Engels konnte bei diesen Worten den zukünftigen Staat der Sowjets nicht vor Augen haben. Aber er traf die heutige Wirklichkeit. Hier erkennen wir, wie die ganze Lehre des Klassenkampfes den Keim bitterster Enttäuschungen in sich trägt.

Wir erkennen aber noch etwas anderes. Der gefeierte Philosoph und obeiste Macht-haber im Kreml schreibt in dem schon zitierten Werke: „Für die dialektische Methode ist vor allem nicht das wichtig, was im gegebenen Augenblick als fest erscheint, jedoch bereits abzusterben beginnt, sondern das was entsteht und sich entwickelt, selbst wenn es im gegebenen Augenblick nicht fest aussieht, denn für die dialektische Methode ist nur das unüberwindlich, was entsteht und sich entwickelt.“ Also nicht das Gegenwärtige, das Bestehende ist unüberwindlich, sondern der Keim des Widerspruches und Widerstandes, den alles Bestehende in sich trägt. Denn „Entwicklung ist Kampf der Gegensätze“. Bleibt die Entwicklung heute stehen? Die Überwindung der bürgerlichen Welt hat dort, wo sie gelang, noch gigantischere Machtballungen, noch herrschsüchtigere Machthaber geschaffen. In den in ihrem Glauben an das Paradies der klassenlosen Gesellschaft enttäuschten Massen hat auch diese neue Welt ihre eigenen, heute noch ohnmächtigen, aber mit den Worten Stalins letztlich „unüberwindlichen“ Totengräber gezeugt. Audi die gesellschaftliche Organisation, die der dialektische Materialismus schuf, „entspricht ... den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr“, vermag das Elend nicht zu überwinden. Sie hemmt die Produktion, statt sie zu fördern, sie muß gesprengt werden, sie wird gesprengt.

Zwei Möglichkeiten sind offen: die Lehre des dialektischen Materialismus ist falsch oder wenn sie — was wir in Abrede stellen — richtig ist, so wirkt sie über sich selbst hinaus: Marxismus marxistisch gesehen ist Marxismus inLiqui-d a t i on.

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