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Bedenkt man die Idolatrie, die derzeit in intellektuellen Kreisen Deutschlands und Österreichs mit diversen Bildnissen Marxens betrieben wird, dann ist die vorliegende Marxbiographie David McLellans geradezu eine Sensation. McLellan betont zwar von vornherein, er stünde dem Phänomen Marx sympathisierend gegenüber, indessen wagt er sich an Retuschen auf gängigen Marx-Bildern heran, die hierzulande für renommierte Sachbuchautoren tabu sind. Damit die Ubersetzung eines solchen Werkes einem deutschsprechenden Publikum zugänglich gemacht werden konnte, bedurfte es außerdem noch eines Verlegers, den sein persönliches Schicksal vor dem Verdacht schützt, er gebe sich für rechtsge-drallte Vorhaben her. So gesehen, hat der Verlag ein Recht, zu behaupten, die vorliegende Marx-Biographie sei die bedeutendste, die seit jener 1918 erschienenen des deutschen Kommunisten Franz Mehring herausgekommen ist.

Um die jungen Katholiken der sechziger Jahre von ihrer damals gefaßten jungen Liebe zum „Jungen Marx“ zu erlösen, kommt das vorliegende Werk allerdings zu spät. Gerade das Bild des Jungen Marx ist es gewesen, das während dieses Jahrzehnts unerfahrenen, leicht beeinflußbaren jungen Menschen vor Augen geführt worden ist, um sie an eine angeblich noch nicht von marxistischen Macht- und Terrorakten verschmutzte Quelle des Marxismus heranzuführen. Damals konnte es geschehen, daß Theologen der unter kommunistischer Kontrolle stehenden Ostkirche katholischen Intellektuellen der „freien Welt“ rieten, sie möchten sich mehr mit dem Jungen Christus als mit dem Jungen Marx beschäftigen. Solchen aus dem Osten kommenden Warnungen standen allerdings Ansichten gegenüber, wie sie Karl Rahner und andere verbreiteten, und die ein geistiges Klima schufen, das für eine „Solidarisierung“ von Christentum und Marxismus wohl geeignet schien. Das vorliegende Werk illustriert vor allem die Frage, wie sehr sich die Frühwerke des Jungen Marx als Basis für eine solche Solidarisierung eignen. Oder ob „noch verbleibende Differenzen“ nicht doch größer und bedeutender sind, als dies in dem von Karl Rahner herausgegebenen' „Theologischen Taschenlexikon“ (1973) behauptet wird.

Im Leben des Jungen Marx muß man sehr weit zurückgehen, um auf die Entstehungsursache seines primär religiös-weltanschaulich und nicht sozio-ökononiisch bedingten Atheismus zu stoßen. Die „süßliche Frömmigkeit“ (S. 20), die Marx im Religionsaufsatz seiner Reifeprüfung (1839) hervorkehrt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein gleichzeitiger deutscher Prüfungsaufsatz auf dem steht, was sein zugleich mit ihm getaufter Vater ihm von Haus aus mitgegeben hat: auf der Mentalität atheistischer Aufklärer und Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts. Als Hochschüler genoß Marx den Vorteil, daß er schließlich als „Ganz-Invalide“ von Militärdienst Preußens befreit wurde. Während seines „Unwohlseins“ in Berlin las, der Junge Marx Hegel „vom Anfang bis zum Ende“, um nachher seinem Vater zu schreiben, sein „Allerheilig-stes“ sei zerrissen und er bedürfe „neuer Götter“, um sie hineinzusetzen. Diese angeblich schwache Gesundheit hinderte indessen den Jungen Marx keineswegs, in Bonn zunächst den damaligen wüsten Saufund Raufcomment der Landsmannschafter mitzumachen und in Berlin ein Leben zu führen, für das er von seinem Vater einen Monatswechsel verlangte, der laut väterlicher Berechnung weit höher war, als der der „Reichsten“. Marx war eben zeitlebens in jeder Hinsicht ein Revolutionär. Ihm, der die Methoden zur Ausrottung der Bourgeois ersann, gefielen die Lebensgewohnheiten dieser „Klassenfeinde“ bis an sein Ende ganz außerordentlich. Von einer „proletarischen Kultur“ findet sich im Leben Marxens keine Spur. Im Gegenteil. Banausisch wie er ist und bleibt, konnte er sich eine künstlerische Existenz gar nicht vorstellen. Für ihn gab es höchstens „Menschen, die unter anderem auch malen“ (S. 159).

Auf dem Weg zu einer Ersatzreligion führte den Jungen Marx zuerst der Konvertit Eduard Gans, der ihn mit den liberalen Junghegelianern in Kontakt brachte (S. 32). Dann aber trieb ihn der Konvertit David F. Strauß („Das Leben Christi“) weit genug von christlichen „Mythen“ ab, um den Jungen Marx für dessen eigene Angriffe auf die Religion innerlich frei zu machen. Indem der Junge Marx seinen Nonkonformismus zunächst auf religiösem Gebiet vortrug, hatte er den Vorteil, gleich am Start einen politischen Zusammenstoß mit dem politischen System der Ära Metternich zu vermeiden (S. 27).

Kaum zwanzigjährig, legte sich der Junge Marx eine leider nie herausgekommene Schrift zurecht, in der er mit einer zeitgenössischen Rechtfertigung des Theismus abrechnen wollte (S. 45). Das Adverb „leider“ steht hier, weil die fragliche Schrift im Falle ihres Zustandekommens unlängst katholische Intellektuelle belehrt hätte, daß Marxens Atheismus nicht erst im „Überbau“ zu suchen ist. Im Gegenteil. Mit dem Atheismus fing das intellektuelle Experiment Marxens an.

Im heutigen Zeitalter einer „emotionsfreien“ Sachgerechtigkeit muß McLellans Hinweis überraschen, wonach schon der Junge Marx die schärfste Waffe des Marxismus entwickelt hat. Ultima ratio Marxens war nämlich zeitlebens nicht das Argument, sondern die Beschimpfung und Verhöhnung des Gegners. So war für Marx der etwa gleichaltrige Otto von Bismarck der „Pißmark“ und Ferdinand Lasalle ein „jüdischer Nigger“. Trotzdem war der Junge Marx klug genug, zu wissen, daß er mit derlei Auslassungen in seiner akademischen Laufbahn nicht weiterkommen würde. Um so ärgerlicher war es, daß er das „lumpige Examen“ (S. 46) in Berlin nicht bewältigen konnte und er daher mit seiner Doktorarbeit nach Jena auswich. Dieser Umweg hat dem Jungen Marx, wie es Karl Kautsky nobel formuliert, die „Erwerbung des Doktorats sehr erleichtert“.

Gescheiterte Existenzen nannte später Bismarck die Journalisten seiner Zeit. Auch Marx kam trotz des Umwegs über Jena nicht recht voran. Zwar gab es zu seiner Zeit genug Nonkonformisten, die in der Öffentlichkeit weit mehr wagten, als sich zunächst der Junge Marx getraute, indessen gelang diesem nicht, was andere Gesinnungsfreunde konnten: einen Lehrstuhl zu erlangen. Die ganze Lesewut des Jungen Marx, sein unermüdliches Fact flnding und seine Sprachgewandtheit reichten eben nicht aus, um ihn über den Graben zu bringen, der einen polemisierenden Publizisten von einem Wissenschafter trennt

Auf 570 Seiten zeigt McLellan auf, daß Marx in dem, was neuerdings als „wissenschaftlicher“ Sozialismus herausgestrichen wird, keineswegs schöpferisch gewesen ist. Denn:

Seine Anschauungen von Wirtschaftsvorgängen stammen von David Ricardo; ein milder Kritiker wie Anton Menger weist nach, daß Marxens Mehnwertlehre vorher von Godwin, Hall und Thompson entwickelt worden ist; Rodbertus (gest. 1875) beklagt sich, er sei „von Marx ausgeplündert worden“; die Konzentrationslehre fand Marx bei Con-stantin Peccheur und Louis Blanc; und auf den Zentralbegriff seiner politischen Denkvorstellungen jenem vom Klassenkampf, wurde Marx sozusagen von amtswegen gestoßen. Hierin wurde der liberale Lorenz von Stein sein Wegweiser, als dieser im Auftrag des preußischen Staates (1842) seine Untersuchungen über den Sozialismus und den Kommunismus im Frankreich des Vormärz verfaßte und der Junge Marx aus dieser Fundstelle einen unerläßlichen Erstbeitrag zu seinem Wissen vom Sozialismus bezog.

Wie seither viele an der Öffentlichkeitsarbeit interessierte Intellektuelle, ging der Junge Marx seinen Weg von der Beschäftigung mit Dokumentationen über eine publizistische Tätigkeit zur parteipolitischen Agitation. In diesem Zusammenhang stehen seine Vorarbeiten an einem .Archiv des Atheismus“ welche Fundgrube leider ebenfalls der Öffentlichkeit und späteren katholisie-renden Marx-Jüngern vorenthalten blieb, weü Marx nicht zu Rande kam. Um diese Zeit wollte der Junge Marx auch an einer geplanten theologisch-philosophischen Zeitschrift mitarbeiten, von der Georg Jung erwartete, diese würde „Gott aus dem Himmel hinausschmeißen“ und ihm „obendrein einen Prozeß anhängen“ (S. 48). Und Arnold Rüge schrieb gleichzeitig, er „habe es schlimm“ mit Marx und Konsorten, wenn diese ihren militanten Atheismus proklamierten.

Den damaligen Größen des rhein-ländischen Liberalismus gefiel indessen der ^Antiklerikal ismus“ des Jungen Marx ganz ausgezeichnet. „Reiche Liberale“ sind es gewesen, die das Geld für die Herausgabe der „Rheinischen Zeitung“ hergaben, die mithelfen sollte, die Konservativen aus der Stellung zu schießen (S. 52). Für die Treuhänder der Aktionäre dieser Zeitung war zwar der Junge Marx „ein ganz verteufelter Revolutionär“, dafür aber „einer der schärfsten Köpfe“ für das gedachte Vorhaben. Und also können es sich die späteren preußischen Ministerpräsi-dneten Hainsemann und von Camphausen zugute halten, daß sie dem Jungen Marx das Entree in seine publizistische Karriere bezahlt haben (S. 52 ff.). Man sieht, es ging um 1840 am Rhein nicht anders zu als um 1970.

Mit großer Genauigkeit stellt McLellan die Etappen des konsequenten Ubergangs Marxens vom Liberalismus zum Kommunismus fest. In der Revolution von 1848/49 brach zum erstenmal der mörderische Trend des späteren Marxismus durch. Als nämlich der Junge Marx einen „Weltkrieg“ gegen die damalige Vormacht des Kapitalismus, also England, verlangte. Hier wird der Zielwechsel sichtbar, den der Junge Marx während seiner konsequenten Rochade vom Liberalismus zum Kommunismus vorgenommen hat: Nicht das zaristische Rußland ist fortan sein Feind Numero 1, sondern die Vormacht des Kapitalismus. Was aber Marx und seine Epigonen bis auf den heutigen Tag mit gewissen Spielarten des Liberalismus verbindet, das ist jener Atheismus, der sich gerne als bloßer Antiklerikalismus im Kampf gegen einen „politischen Katholizismus“ gibt

Als der Junge Marx nach der 48er-Revolution nach England ging, suchte er dort nicht nur das Asyl des Emigranten, sondern vor allem den Komposthaufen des Manchesterliberalismus. In diesem hoffte er zu finden, was es im damaligen Deutschland nicht gab: die von der Industriellen Revolution erzeugten krassen Schäden, für deren Bekämfung Marx die Schießlehre des „Klassenkampfes“ verfassen sollte. Jene Methode zur Ausrottung von Millionen Angehöriger einer „Klasse“, die später Lenin, Trotzki, Stalin usw. so perfekt beherrschen sollten.

McLellan verteilt seine Darstellungskunst ziemlich gleichmäßig auf das Werk und die Person Marxens. Und so erweist sich Marx als einer der Seher eines „neuen Bildes vom Menschen“, dessen höchstpersönliche Humanität, wie zum Beispiel im Falle Rousseaus, äußerst maßvoll ist. Marx tat in seinem Haushalt in London, was viele bourgeoise „Haushaltungsvorstände“ getan haben: Er schwängerte seine Haushälterin Helene Demuth, die als „unser Len-chen“ bisher in allen sympathisierenden Marxbiographien eine so rührende Rolle gespielt hat. Bei diesem Vorfall hätte Marx die Gelegenheit gehabt, seine Emanzipierung von der „bourgeoisen Ehe“ höchstpersönlich mit der Tat zu bekräftigen. Indessen hat sich Marx als außerehelicher Kindesvater wie ein exemplarischer spießbürgerlicher Ehebrecher betragen (S. 290 ff.). Er bekam Angst vor dem Eklat dieser Affäre, Angst vor den „Nerven“ seiner Frau, die er während ihrer Krankheit betrog, und Angst vor der kolossalen Taktlosigkeit einzelner Menschen“. Marx, dem selbst soviel an „Ausdünstungen der demokratischen Kloake“ lag, wenn er einen Gegner fertigmachen, wollte, ihm, dem Ausbund der Intoleranz und Taktlosigkeit, wurde es entsetzlich, fürchten zu müssen, derlei Ausdünstungen könnten auch in die Nase seiner Frau kommen. Seiner Frau, auf deren „Zugehörigkeit zur preußischen Aristokratie“ er zuweilen reflektierte, wenn er als Revolutionär mit dem Staat der Feudalära in Konflikt geriet (S. 201).

Wie hygienisch rein bourgeois konnte doch die Moral dessen sein, der auszog, die Moral der Feudalen und der Bourgeoisie zu zerstören. Und die seitherigen Zerstörer der „bourgeoisen“ Ehe und Familie haben es in der Tat 120 Jahre lang, bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts, verstanden, Marxens Ehebruch sowie die damit verbundenen „Folgen“ streng geheim zu halten. Vergleicht man damit die von der marxistischen Propaganda verbreitete Chronique soandaleuse „verkommener“ Aristokraten, Besitzbürger und Pfaffen, dann fällt jene doppelbödige Moral auf, die im Stil Marxens noch mitten unter uns betrieben wird.

Mag der Streit um den von Marx inaugurierten sogenannten „wissenschaftlichen Sozialismus“ weitergehen. Die Personalakte Marxens ist geschlossen und in ihr erliegt ein Bild von photographischer Treue. Es ist das Bild eines Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, der noch einem quasi wissenschaftlichen Determinismus aus dem 18. Jahrhundert verhaftet ist. Eines Juden, der nach Verlust seines religiösen Glaubens auf der Suche nach einer Ersatzreligion glaubte, eine solche Ideologie gefunden zu haben, und der in dieser Erwartung die Massen sammelte. Dieser ungemein scharfsichtige Diagnostiker hat der Menschheit einige Therapien verschrieben, wie sie mörderischer nicht sein konnten.

KARL MARX, LEBEN UND WERK, von David McLellan, Edition Praeger, München 1974, 570 Seiten.

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