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Depeichen aus Soho

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Am 25. Oktober 1851 wies die New Yorker „Tribüne”, damals Amerikas führende konservative Zeitung, in ihrem Leitartikel eigens auf Beiträge einiger neuer ausländischer Mitarbeiter hin. Darunter sei auch ein Bericht über die Lage im deutschen Baum, „verfaßt von einem der scharfsinnigsten Autoren, die jenes Land je hervorbrachte — ganz unabhängig davon, wie man seine politischen Ansichten beurteilen mag.”

Beim Weiterblättern fanden die Leser dann einen langen Artikel unter dem Titel „Revolution and Counter-Revolution”, gezeichnet mit dem Namen „Karl Marx”.

„Der erste Akt des Revolutionsdramas auf dem europäischen Kontinent ist zu Ende”, begann der Text in einer Grundstimmung von Wetterleuchten und Donnergrollen’. „Die Mächte von gestern aus der Zeit vor dem Sturm von 1848 sind wieder die Mächte von heute.” Aber, so fuhr der Korrespondent fort, bald werde der zweite Akt anheben, und die Pause vor dem nächsten Sturm biete günstige Möglichkeiten, „die allgemeine soziale Lage… der unterdrückten Nationen” zu studieren, eine Situation, die unweigerlich zum Umsturz führen müsse.

Der Autor sprach im weiteren häufig von der „Bourgeoisie” und dem „Proletariat” — seltsame, ungewohnte Worte für die Leserschaft der „Tribüne”. Der Herausgeber Horace Greeley wurde gefragt: „Wer ist dieser Mann?”

Dieser Mann saß nach seiner Flucht aus Köln und Paris nun in London. Dort versuchte er, wieder ein linksradikales Blatt zu gründen. Ohne Erfolg. Seine Ersparnisse gingen dabei in Raudi auf, mit Frau und Kindern hauste eir in einem Elendsquartier im üblen Stadtteil Soho, verzweifelt darum bemüht, neue Einnahmsquellen zu erschließen.

In der folgenden Woche jenes Herbstes 1851 erschien wieder ein Beitrag von Karl Marx in der „Tribüne”, eine Untersuchung über das Wesen der Revolution. Auch in der dritten Woche wurde die Berichterstattung über die Ereignisse in Deutschland fortgesetzt. „Es wird Sie vielleicht freuen zu erfahren, daß Ihre Artikel hier großes Interesse finden”, teilte Charles Dana, der verantwortliche Redakteur, dem Londoner Korrespondenten in einem Brief mit. Wie dieser Mr. Marx auch denken mochte, schreiben konnte er jedenfalls. Und er baute die einmal angeknüpfte Verbindung umsichtig aus, kommentierte für die „Tribüne” die Entwicklung in England, Frankreich, Spanien, dem Orient — so wie sich die Weltlage von seiner Warte unter einem schadhaften Dach aus Soho aus überblicken ließ.

Aktuelle Meldungen, Presse- Resümees, Polemiken und Prophezeiungen in großer Zahl nahmen ihren Weg von seinem Schreibtisch zum nächsten Paketboot mit dem Ziel New York, meist wöchentlich, manchmal aber auch zweimal pro Woche, denn jeder Artikel brachte fünf Dollar ein.

Diese sonderbare Beziehung dauerte mehr als zehn Jahre. Während dieses Zeitraums lieferte der radikalste Extremist Europas für die „Tribüne” mindestens 500 Beiträge. Gewiß, die Honorare waren gering, so gering, daß Marx’ Mentor und Kampfgenosse Friedrich Engels ihm beipflichtete, es sei „der erbärmlichste kleinbürgerliche Betrug”, doch die Überweisungen aus New York bildeten damals Marx’ Hauptein- künfte, außer den Zuwendungen, die von Engels stammten. Mit anderen Worten: das Organ der amerikanischen Konservativen und ihrer Nachfolger, der Republikanischen Partei, hielt Marx während jener Jahre über Wasser, als er „Das Kapital” konzipierte und erarbeitete.

Er nahm sogar vieles von dem Material, das er für die „Tribüne” gesammelt hatte, vollinhaltkh in sein Werk auf, so etwa die Ausführungen über die Verelendung der englischen Arbeiterschaft im Verlauf der Depression der späteren fünfziger Jahre.

Die „Tribüne” war für Marx nicht nur zur Sicherung seines Existenz- miniimums wichtig, sie bot ihm auch während der intensivsten Schaflensperiode seines Lebens das Experimentierfeld für Agitation. Hätte es diese Zeitung nicht gegeben, die ihn honorierte, dann gäbe es vielleicht — wer bann es sagen? — kein „Kapital”. Und wären ohne „Das Kapital” alle anderen Weiterungen denkbar gewesen, hätten dann ein Lenin und ein Stalin die Welt erschüttern können? Doch solche Fragen sind müßig. Die Geschichte schlägt oft sonderbare, geheimnisvolle Wege ein.

Wenige Episoden in den Annalen der internationalen Journalistik erscheinen widersprüchlicher als diese Verbindung zwischen dem finsteren Ideologen in Soho und dem verkauften, grumdbürgerlichen Yankee Horace Greeley, „Uncle Horace”, wie die Leser jene Dickens-Figur mit der ständig auf die Nase rutschenden Brille nannten. Noch seltsamer ist das Ausmaß, das diese Beziehung erreichte. Wohl wurden rund 500 Berichte von Marx mit Namen gezeichnet in der „Tribüne” veröffentlicht, aber es läßt -ich nicht mehr feststellen, wie viele er tatsächlich lieferte, denn manche blieben liegen und landeten schließlich im Papierkorb, während andere in veränderter Form oder als Einfügungen in Leitartikeln gedruckt wurden, ohne Angabe des Verfassers.

Indes, das Rätselraten gehtt noch weiter. Selbst wenn ein Beitrag eindeutig unter dem Namen Karl Marx in der „Tribüne” erschien, ist damit noch nicht geklärt, ob er auch wirklich von Marx stammte. Charles Dana, der den Kontakt mit dem Londoner Korrespondenten betreute, glaubte olfenbar, daß alles, was Marx der Zeitung verkaufte, aus dessen eigener Feder kam. Heute wissen wir mehr darüber. Aus Marx’ umfangreichem Briefwechsel mit Engels geht hervor, was die New Yorker Redaktion niemals vermutet hätte, nämlich, daß vieles, was sie unter der Etikette ,,By Karl Marx” annahm, in Wahrheit den immer hilfsbereiten Freund Friedrich Engels als Ghost-writer zum Urheber hatte!

Kein einziges Wort jenes ersten Artikels, den die „Tribüne” als das Werk „eines der scharfsinnigsten Autoren” Deutschlands pries, hatte Marx geschrieben Ebensowenig wie die Beiträge, die er unter seinem Namen während der folgenden sechs Monate über den Atlantik sandte. Auch bei den weiteren Aufsätzen ist es strittig, was wirklich Marx verfaßte und wieweit Engels daran beteiligt war.

Der Mittelsmann Charles Dana, ehemaliger Student der Harvard- Universität und später ein typischer Kavalier seiner Epoche, war im Jahr 1848 New Yoiiker Lokalredakteur der „Tribüne”. Als aus Europa die ersten Nachrichten von der Revolution eintrafen, bewog er den Herausgeber Greeley, ihn ins Aktionsgebiet, zu schicken. Dana erlebte den Sturz der Julimonarchie Louis Philippes mit. Paris stieg auf die Barrikaden, auch der junge amerikanische Reporter war an allen Brennpunkten der Kämpfe. Er sah in der Rue de Rivoli Blut fließen.

Von diesem Schauplatz des Geschehen® eilte er nach Deutschland. In Köln besuchte er Karl Marx, der damals während der kurzen Aufhebung des Polizeiverbotes ein Winkelblatt redigierte, die „Rheinische Zeitung”.

Der Inhalt des Gesprächs zwischen dem Repräsentanten der „Tribüne” und dem Verfasser des „Kommunistischen Manifests” ist nicht überliefert. In reiferen Jahren scheint Darna alle Erinnerungen an die Begegnung aus seinem Gedächtnis verdrängt zu haben. Aber dieser Kontakt führte zu der schicksalhaften Verbindung. Nach Danas Rückkehr in die USA wurde sie perfekt.

Das Angebot, eine Artikelserie über die 48er-Revolution in Deutschland zu schreiben, war für Marx der rettende Strohhalm. Die englischen Zeitungen hatten seine Mitarbeit abgelehnt. Schon deshalb, weil er die Sprache nicht gut genug beherrschte. Doch da sprang Engels ein: er würde die Texte übersetzen. Der Sohn einer hochkultivierten Industriellenfamilie war ebenfalls verbannt, aber als Leiter der väterlichen Zweigfabrik in Manchester hatte er sicheren Boden unter den Füßen.

Marx verfiel auf eine sehr praktische Idee: eigentlich könnte er den Freund gleich die ganze Serie schreiben lassen, dadurch hätte er selbst freie Hand, um seine - Studien für „Das Kapital” zu betreiben. Sehr rasch war Engels für. diesen Plan gewonnen. „Mes remerciements pour ton article”, hießt es in einem Dankbrief von Marx. „Er… ist unverändert nach New York gesegelt. Du hast ganz den Ton für die ,Tribüne” getroffen.”

Während also Marx von seinem Quartier in Soho aus die allgemeine politische Linie für die Beiträge angab, mit dem Bemerken, er selbst sei zu beschäftigt, um mehr zu tun, setzte sich der getreue Genosse in Manchester nach der Arbeit in der Fabrik noch an den Schreibtisch, brachte das Geforderte zu Papier, hastete dann durch den Nachtnebel zum Bahnhof, um sein Manuskript für den letzten Expreßzug nach London abzufertigen. Marx sah es flüchtig durch und expedierte es postwendend übers Meer.

Sein Leben war zu der Zeit von tiefer menschlicher Tragik überschattet. Mit seiner Frau und seinen sechs Kindern bewohnte er zwei armselige Zimmer. Drei der Kinder starben dort. Oft fehlte es am Allernötigsten. „Ich habe nichts für Dana geschrieben, denn ich besaß nicht einmal den Penny, um Zeitungen zu kaufen.”

Unter solchen Umständen konnte sich die Beziehung zwischen der „Tribüne” und einem Mann, der von Natur aus hochmütig, unduldsam und reizbar war und überdies in eine namenlose Verbitterung und Existenzangst um seine Familie getrieben wurde, auf die Dauer nicht günstig entwickeln. Marx bestürmte seine New Yorker Auftraggeber ständig mit Forderungen nach häufigerer Plazierung seiner Artikel und vor allem nach besseren Honoraren. Als diesen Wünschen wicht entsprochen wurde, machte er seinem Grimm in seinen Notizen an Engels Luft. Darin bezeichnete er die „Tribüne” als „Löschpapier” oder „Dieses Lauseblatt”. Auch Greeley selbst kam schlecht weg. „Dieser alte Esel”, wetterte Marx. Aber er vermied einen Bruch, um die Einkünfte aus Amerika nicht zu verlieren.

Dana als verantwortlicher Redakteur hatte es mit dem ungebärdigen Mitarbeiter schwer. Doch er zog sich immer glatt aus der Affäre. Seine Antworten stilisierte er diplomatisch „Im Namen unserer Freundschaft”, überging aber elegant die Forderung nach Erhöhung der Honorare um das Dreifache. Marx raste, schrieb aber weiterhin für die „Tribüne”, die ihn zumindest offen aussprechen ließ, was er sagen wollte. „Mr. Marx äußert seine ganz persönlichen Meinungen, mit einigen davon stimmen wir keineswegs überein”, heißt es in einem redaktionellen Kommentar. „Doch wer seine Berichte nicht liest, läßt eine der aufschlußreichsten Informationsquellen über die wichtigen Fragen der europäischen Politik außer acht.” Im Jahr 1853 zeichnete sich am politischen Horizont die Türkei- Krise zwischen den westeuropäischen Großmächten und Rußland mit aller Deutlichkeit ab — eine Entwicklung, die bald zum Krimkrieg führte. Marx und Engels lieferten ihren amerikanischen Lesern eine Artikelserie über die ethnischen, historischen und militärischen Hintergründe der Situation und sagten eine allgemeine Revolution voraus. „Von Manchester bis Rom, von Paris bis Warschau ist sie allgegenwärtig und erhebt ihr Haupt..

Allmählich wurde man bei der „Tribüne” solcher apodiktischer Prophezeiungen müde. In Europa gab es keine Anzeichen neuerlicher Umwälzungen. Die Massen stiegen nicht auf Marx’ Barrikaden. 1855 unternahm Horace Greeley eine Reise in die Alte Welt, aber seinen Londoner Korrespondenten suchte er nicht auf. So kam es, daß diese beiden Männer, die wie große Schiffe auf gegenläufigen Kursen manövrierten, einander niemals trafen.

1857 sah sich die „Tribüne” gezwungen, infolge finanzieller Schwierigkeiten ihren Stab an Auslandsberichterstattern drastisch zu reduzieren.

Aber Charles Dana, der Marx’ bedrängte Lage kannte, wußte Rat. Er selbst bereitete nebenbei ein Nachschlagewerk vor, die „New American Cyclopedia.” Dafür benötigte er eine Reihe von Kurzbiographien, zum Honorar von zwei Dollar pro Druckseite. Marx hatte keine andere Wahl. Voll inneren Widerstrebens und verdrossen wie immer setzte er sich mit Engels zusammen, und sie kompilierten in aller Eile historische Skizzen, beginnend mit den Buchstaben B: Barclay, Berna- dotte, Berthier, Blücher…

Die Depeschen aus Soho kamen seltener, und Greeley und Dana veröffentlichten sie meist nur dann, wenn sie in ihren Spalten gerade Platz dafür hatten. Bei Ausbruch des Sezessionskrieges löste Dana seine Bindung an die „Tribüne”. In seiner politischen Karriere brachte er es bis zum stellvertretenden Kriegsminister der Union. Bald darauf verzichtete das Blatt auch gänzlich auf Marx’ weitere Mitarbeit.

Dieser betätigte sich nie mehr als Korrespondent einer Zeitung. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte er den Großteil des „Kapitals” vollendet, und in der Folge nahm ihn die Organisation der Ersten Kommunistischen Internationale in Anspruch. Greeley seinerseits erwähnt in seinen Memoiren kein einziges Mal den Namen des berühmtesten und schwierigsten Mannes, der je für ihn schrieb.

Alles, was von dieser Episode blieb, sind Bündel vergilbter Briefe und gedruckte Archivbestände. Für Marx war die zwangsläufige Allianz mit der „Bourgeoisie” kein ideeller Erfolg: er konnte die Leser der „Tribüne” nicht zum Marxismus bekehren…

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