6743724-1966_51_09.jpg
Digital In Arbeit

Suche nach dem Ansatzpunkt

Werbung
Werbung
Werbung

„Marx’ Leben ist durch das Bemühen gekennzeichnet, die von ihm geforderte Einheit von Denken und Handeln selbst auch zu verwirklichen“, schreibt Wolfgang Mantl im „Katholischen Soziallexikon“. Der Mensch Marx ist es, den es auszuloten und zu deuten gilt, der Mensch Karl Marx, der lange Zeit hinter dem Philosophen, hinter dem Ökonomen, hinter dem Soziologen, hinter dem Politiker Karl Marx verborgen lag. Und von den 65 Lebens- . fahren dieses Menschen Karl Marx sind insbesondere die Jahre für die neuere Marx-Forschung von Interesse, die der junge Marx durchlebte — in Trier, in Bonn, in Berlin, in Paris; diese Jahre, in denen endgültig die Weichen gestellt wurden, in denen die Entscheidung fiel, daß aus dem Jung-Hegelianer und dem von der Romantik Beeinflußten der Schöpfer des „Kommunistischen Manifests“ und schließlich des „Kapitals“ werden sollte.

Die Wissenschaft bemüht sich heute viel mehr als jemals zuvor, ohne ideologische Verhärtung, ohne eine bereits von vornherein bezogene und wirksam gewordene Pro- oder Antistellung an den Menschen Karl Marx heranzukommen. Sie findet den besten Zugang zu dem Rechtsanwaltssohn aus Trier über dessen Jugendjahre, die allzu lange vernachlässigt wurden. „Der junge Marx ist die Entdeckung unserer Zeit“, schrieb Erich Thier 1957. Dem jungen Marx auf der Spur ist Gerhard Drekonja, Dr. phil., Historiker und Politologe. Sein Beitrag ist Teil einer größeren, noch unveröffentlichten Arbeit.

1844 besuchte Engels einen deutschen Publizisten, der damit beschäftigt war, auf dem Weg der Reflexion eine Gesellschaftsinterpretation zu entwerfen, welcher der tatsächlichen Situation, dem Ausednan- derfallen der Gesellschaft in Eigentümer und Nichteigentümer gerecht werden sollte: Karl Marx. Die Schwäche seines Verfahrens lag in den Abstraktionen, die sich zum Teil als Rückschläge Hegel scher Modelle identifizieren ließen. Marx’ Terminologie basierte 1844 nicht auf einer empirischen Analyse. Engels konnte diese liefern. Der Informationsreise, welche die beiden Freunde 1845 nach England unternahmen, folgte die „Deutsche Ideologie“, in der Marx eine von allen Abstraktionen gesäuberte Gesellschaftstheorie vorlegte: fruchtbare Synthese dieses entscheidenden Zusammentreffens im 19. Jahrhundert.

Nichts deutete auf diese Begegnung hin. Karl Marx wuchs auf im spätklassizistischen Milieu der behäbigen Stadt Trier, die am Wiener Kongreß Preußen zugeteilt worden war. 1835 ging der Siebzehnjährige nach Bonn, um Jus zu studieren. Ein Jahr später übersiedelte er nach Berlin, hörte Philosophie und Geschichte. Doch die eigentliche Neigung gehörte der Poesie.

Marx, der Romantiker

Marx trägt die düstere Miene des romantischen Genies zur Schau, gesellt sich in Bonn einem konspirativen Dichterbund zu, findet in Berlin Eingang im Doktorklub, in dem sich die zornigen jungen Männer der Stadt, die Linkshegelianer, treffen. Oft und oft wurde betont, Marx’ Vorstellung der zukünftigen Geschichte und einer klassenlosen Gesellschaft entspringe messianisti- schen und eschatologischen Bezügen. Wir wollen diese Interpretation nicht widerlegen. Eine vordergründige Er klärung liegt jedoch auf der Hand. Es verblüfft, wieviel von den Gedankengängen des jungen Dichters (der schlechte Gedichte verfaßte) in den seltenen vagen Beschreibungen der klassenlosen Gesellschaft wieder- kehrt. Die Romantik begleitet Marx unterschwellig das ganze Leben, prägt die Kritik der Nationalökonomie mit und taucht auf in den Vorstellungen zu einer neuen Gemeinschaft, in der alle Entfremdungen wie auch die eigene Isolierung wegfallen (Marx begründet seine seltenen persönlichen Kontakte damit, daß er nur mit sehr wenigen Menschen Freundschaft schließe.

Die Schlüsselworte in den Gedichten — Nacht, Harmonie, Begegnung der Seelen, Aufgeben des Ich — weisen auf die ästhetisch zu verstehende Ausmalung des nachrevolutionären Zustandes: an die Stelle von Klassen tritt eine Assoziation, welche den dialektischen Gegensatz ausschließt und auch die politische Gewalt unmöglich macht. In dieser Assoziation wird es die Umstände geben, die gestatten, das eigene Ich dem Anderen zu schenken und durch die Regelung der allgemeinen Produktion zur vollen Entfaltung der Persönlichkeit zu gelangen. Die berühmte Stelle in der „Deutschen Ideologie“, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt zu werden, stellt also, gerade weil es sich um ästhetische Kategorien handelt, nichts anderes als eine spielerische Möglichkeit dar, die mehr an die Pastoralen in Hemingways „Fiesta“ erinnern als an die Bewältigung der Problematik der industriellen Produktion.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung