Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
„Ende des Austromarxismus?“
Wenn nicht alle Zeichen trügen, so kündigt sich doch nach der großen Heimsuchung der Beginn eines neuen Kapitels der Menschheitsgeschichte an, eine Zeit angewandter, in härtester Schule gewonnener Erkenntnisse. Eine zuvor nie erträumte Umgestaltung des Völkerrechtes ist eingeleitet, das Nürnberger Verdikt ist für den Bereich einer künftigen internationalen Strafgesetzgebung der erste Akt. Das Verhältnis zwischen europäischen Herrschaftsstaaten und überseeischen Kolonialvölkern ist in tiefer Verwandlung begriffen. Eine soziale Reformbewegung mit hochgesteckten Zielen durchzieht die meisten Staaten des europäischen Kontinents. In Österreich verspürt man das Streben nach Neuorientierungen des öffentlichen Lebens. Bezeichnenderweise äußert sich das Suchen nach neuen programmatischen Formulierungen ebenso rechts im Lager der an der sozialen Arbeit wissenschaftlich und praktisch interessierten Katholiken wie auf sozialistischer Seite. Die sehr lebendig bewegten Diskurse auf den Salzburger katholischen Hochschulwochen widerspiegelten auch erst kürzlich eine dieser Tatsachen.
Um nicht weniger geht es in den Auseinandersetzungen, die schon seit geraumer Zeit sich in sozialistischen Konferenzen und der parteigenössischen Literatur abspielen. Die zwei einander gegenüberstehenden Richtungen führen ihre Gefechte, ohne etwas von ihrer taktischen Einheit preiszugeben, mit einer methodischen Gründlichkeit und sachlichen Schonungslosigkeit, die Respekt einflößen können. Es blitzt zwischen hüben und drüben, aber es schlägt nicht ein. Daß unter den Jungen die Debatte schärfer geführt und im ,.Strom“, dem Organ der sozialistischen studierenden Jugend, die Gegenreden sichtlich in größerem Abstände voneinander geführt werden, ist schon daraus zu erklären, daß diese Jugend von den Erlebnissen der letzten Jahre stärker aufgerüttelt ist als die Alten und bei vielen dieser jungen Menschen die Vorurteilslosigkeit in weltanschaulicher Beziehung größer, das Bedürfnis nach religiösen Werten stärker ist. Doch auch die Auseinandersetzung in der Führerschichte hat ihre starken Akzente. Schon vor ein paar Monaten ist sehr ernsthaft und positiv die These „Finis Austromarxismi“. also der Bruch mit dem alten Dogmengebäude des österreichischen Sozialismus, in die Diskussion geworfen worden. Und sie klingt heute nicht nur nach, sondern bildet den Wesenskern der fortdauernden Auseinandersetzung.
Im Vordergrund des Gefechtes steht eine publizistische Persönlichkeit von Rang, der Chefredakteur des führenden Parteiblattes und zugleich der Spitzenführer der Redaktion der hochstehenden sozialistischen Monatsschrift für Politik und Kultur „Die Zukunft.“ — Das geistige Gesicht des „Kampf“, der Monatsschrift, die vor 1934 die Rüstkammer für Parteiwissenschaft und hohe Politik des österreichischen Sozialismus bildete, war ein anderes, schon die Einführung der „Zukunft“ deutete die-Änderung an: „Es gilt zu bewahren und es gilt das Neue zu erkennen.“ Das Neue, das sind Veränderungen, die namentlich darin gesehen werden, daß die geistige Führung der internationalen sozialistischen Bewegung von der Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs, der Heimat von Karl Marx und Friedrich Engels, Bebel und Viktor Adler und ihrer hohen Schule, „auf Länder wie England übergegangen ist, deren Bewegung nicht prinzipiell marxistisch ist“. Also, daß die Kraft und Berufung, die Marx der deutschen Nation und nur ihr zugesprochen hatte, das internationale Proletariat in den Befreiungskampf zu führen, in den jetzigen ge-schidTtlichen Umwälzungen verlorengegangen sei.
Der Austromarxismus nach 1918, sagt im letzterschienenen Heft der „Zukunft“ Oscar Pollak. war die Fähigkeit und die Leistung einer großen Arbeiterbewegung, zusammengedrängt auf einen kleinen Raum und in gewisser Hinsicht durch die Komprimierung gesteigert. Dennoch war es schon damals unverkennbar, daß Österreichs Alpenboden auf die Dauer dieser großen geistigen Bewegung nur unzulängliche Nahrung bieten konnte, ebenso wie die Probleme des Klassenkampfes und des Sozialismus in diesem kleine Lande zwar mit gesteigerter Intensität wie in einer Versuchsretorte vorgeführt, aber nicht wirklich ausgekämpft werden konnten.
Nun, nach den „zwei Faschismen“, die der österreichische Sozialismus zu bestehen gehabt hat, sei er „ schwächer als je, die schöpferische Kraft seiner ausgebluteten Arbeiterbewegung reduziert.“ Man habe es heute nicht bloß mit einem Niedergang des Austromarxismus zu tun, sondern einer kritischen Phase der Beziehungen zwischen Marxismus und Arbeiterbewegung überhaupt. Ungeschminkt seien zwei Tatsachen festzustellen: erstens im Gesamtbereich der Weltarbeiterbewegung hat der Marxismus als führende und richtunggebende Lehre heute eine geringere Bedeutung als vor einer Generation. Zweitens, die theoretischen Leistungen des Marxismus als Wissenschaft, seiner Denker und Schriftsteller, sind in der Gegenwart weniger zahlreich und entschieden weniger bedeutend als in der Vergangenheit.
Einige Fehler der Vergangenheit seien offensichtlich, „so die gegensätzliche Stellung zur Nation und die Vernachlässigung der moralischen unter den massenpsychologischen Triebkräften, der irrationalen Element e“. Womit offenbar auf die kulturkämpferische Haltung der Partei und ihre Vermischung mit der Frei-denkerbewegung hingedeutet ist.
Der Verfasser sieht den Marxismus als Theorie — und es war eine revolutionäre Theorie — im Rückgang, aber triumphierend „als geschichtliche Kraft, insofern als er immer Entwicklung, ein neues Werden voraussetzt, also auch selbst zeitbedingten Veränderungen unterworfen ist“. In der Tat ist ja Marx ein Schüler Hegels und sieht ein Grundgesetz in der dialektischen Entwicklung, die alles Sein in ein stetes Werden auflöst. Aus dieser Sicht erklärt der führende sozialistische Publizist — und er steht nicht allein — sich auch heute als Marxist, wenn auch im Gegensatz zu den Doktrinären der alten Schule, „den Formelkrämern und Zitatenhändlern, die einem mit Definitionen der Dinge von vor hundert Jahren kommen und gar nicht merken, daß sich die Dinge selbst inzwischen verändert haben.“
Wenn man von solchen Mut erfordernden Auseinandersetzungen im sozialistischen Lager Kenntnis nimmt, so wird es vernünftigerweise nicht mit dem Gefühle der Genugtuung sein, daß auch andere ihre Probleme haben, sondern der notwendigen Aufmerksamkeit für ernste geistige Bewegungen in unserer Nachbarschaft, die für die österreichische Demokratie, ihre soziale und politische Entwicklung von Tragweite werden können.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!