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Neoliberalismus und kath. Soziallehre

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Es ist unbestritten eines der großen Symptome unserer Zeit, daß es in jedem der beiden traditionellen Gesprächspartner der christlichen Sozialreform, dem Sozialismus und dem Liberalismus, mehr oder minder starke, jedenfalls aber nicht zu übersehende Tendenzen vorhanden sind, die von den Enttäuschungen mit extremen Gesellschaftstheorien ernüchtert von links wie von rechts in eine Richtung einschwenken, die die christliche (oder besser mit Johannes M e ß n e r: traditionelle) Naturrechtslehre seit eh und je - mehr oder weniger konkret — vorgezeichnet hatte.

Nicht minder unbestritten ist auch das Verdienst derer, die sich um die Beobachtung und Förderung dieser Entwicklung im christlichsozialistischen Gespräch bemühen. Als es in Oesterreich noch für einen sozialistischen Mandatar der Wiener Universität möglich war, sich gegen den Marxismus für den .,Labour-Sozialismus“ zu bekennen, konnte man vielleicht auch noch mit Recht auf eine besonders früchtbare Zusammenarbeit dieser beiden Weltanschauungen rechnen, als den einzigen Ideen, „die den Bombenhagel des Krieges überlebt haben“, wie sich damals nicht nur Josef Dobretsberger1 ausdrückte. Wenngleich

man die geistige Regsamkeit des kontinentalen Sozialismus damals überschätzte, kam es doch immerhin zu recht bemerkenswerten Entwicklungen etwa auf dem Gebiete der sozialistischen Kulturpolitik und vor allem der (kaum mehr sozialistischen) Familienpolitik, im englischen Sozialismus sogar zu der sehr interessanten .und zukunftsweisenden Entwicklung um die „Socialist Union“, die gerade an dieser Stelle3 gebührend gewürdigt wurde. Es ist daher durchaus berechtigt und zu begrüßen, daß kaum eine Woche vergeht, in welcher im katholischen Raum nicht über „Christentum und Sozialismus“, über „Marxismus an der Wende“ usw. geschrieben oder gesprochen, die Leistung Karl Marx' für die Klassenwerdung der Arbeiterschaft gewürdigt und sein System als „Verdecktes Christentum“ erkannt wird. — Man glaubt katholischerseits aber sogar, behaupten zu können, wir wüßten heute über Rerum Novarum und Quadragesimo Anno hinaus', „daß der konkrete Sozialismus (im Gegensatz zum abstrakten, der politisch im Sowjetismus verwirklicht ist! Anm. d. Verf.)... durchaus mit dem Christentum in Theorie und Praxis vereinbar ist“. Ja, man versteigt sich sogar zu Thesen wie folgender: „Das europäische Bauerntum ... kann nur durch denjenigen konstruktiven Sozialismus gerettet werden, der die konservative Idee der christlichen Sozialreform von der Eigenart und dem Eigenrecht der bäuerlichen Denk- und Lebensform in sein planwirtschaftliches Denken aufgenommen hat3.“

Demgegenüber ist es auffallend, wie wenig Beachtung im katholischen Bereich die theoretische und praktische Entwicklung des Liberalismus zum Neoliberalismus findet, dessen eigene prominente Vertreter mit Recht die Frage aufwarfen, „ob nicht das, was manche .Neoliberalismus' nennen, sich bereits weit vollständiger als nahezu der gesamte zeitgenössische Sozialismus von dem allgemeinen philosophischen Schema gelöst hat, das im 19. Jahrhundert dem Liberalismus wie dem Sozialismus so weitgehend gemeinsam gewesen ist*“. Wo finden sich heute in der katholischen Publizistik Stimmen, die nicht nur bereit sind, die Teistungen des Sozialismus für die soziale Gerechtigkeit, sondern auch die Leistungen des Liberalismus für ein anderes, ebenso christliches Gut, die persönliche Freiheit, gebührend anzuerkennen? — Dieses Manko ist um so unverständlicher, als sich die Anhänger der katholischen Soziallehre in Oesterreich, Deutschland, Italien und anderen europäischen Staaten mit den Liberalen zu gemeinsamen Volksparteien oder wenigstens Regierungskoalitionen — nicht zuletzt gerade der Freiheit in Politik und Wirtschaft wegen — zusammengefunden haben. Von denen, die heute (etwas zu spät) den „großen Skandal des 19. Jahrhunderts“, als welchen Pius IX. mit Recht die Abwendung der Arbeiterschaft von der Kirche

bezeichnete, entdecken, scheinen manche nunmehr Gefahr zu laufen, den großen Skandal des 20. Jahrhunderts zu übersehen: die perfekte Diktatur des mit allen Mitteln der modernen Technik ausgestatteten Gesinnungsstaates.

Die Diskussion des Verhältnisses des Neoliberalismus zur katholischen Soziallehre wurde nach dem Krieg (spätestens) mit einem Artikel Wilhelm Röpkes in „Wort und Wahrheit“ (Wien 1947, S. 321) über Quadragesimo Anno eröffnet und hätte nicht einladender sein können. Der Autor hob hervor, wieviel gerade diejenigen, „die sich um eine Befreiung des Liberalismus ■ von den verhängnisvollen Torheiten des 19. Jahrhunderts und um seine philosophische Vertiefung bemühen, dem katholischen Denken verdanken“, und daß vielleicht „nirgends sonst so deutlich wie in der Soziallehre der katholischen Kirche“ das ehrwürdige Erbe Europas entgegentrete. Die Diskussion ist nun im vergangenen Jahr durch einige sehr bemerkenswerte Publikationen weiter fortgeschritten, von denen jede von Umständen begleitet war, die für den heutigen Stand der Diskussion immer noch typisch sind.

So behandelte Daniel V i 11 e y im letzten Band des „Ordo“ (VII, Düsseldorf—München 195 5), dem Organ dieser Gruppe des Neoliberalismus (daher besser: „Ordoliberalismus“) — bezeichnenderweise auf Anregung Röpkes! — die „Marktwirtschaft im katholischen Denke n“. Die Ansichten dieses französischen Katholiken sind um so aufschlußreicher, als die Kluft zwischen dem Katholizismus und dem Liberalismus in Frankreich besonders groß ist und die Linkstendenzen des französischen Katholizismus bekannt sind. Villey, der in seinem Lande schon wiederholt zu diesem Fragenbereich Stellung genommen hatte, kennzeichnet die Ursache des Anti-liberalismus der Katholiken sehr treffend in folgender Weise: Die katholische Intelligenz weiß über die Wirtschaft zu wenig und kennt daher auch darin keinen sittlich neutralen Bereich. Sie mißtraut der Autonomie der Wirtschaft als „mechanistisch“, auch dort, wo eine gewisse Eigengesetzlichkeit dieses Kultur-

bereiches nicht bestritten werden kann. Sie hat vielfach eine falsche Einstellung zur Natur des Menschen und verurteilt daher das Handeln aus Gewinnstreben. Sie hat ferner falsche Vorstellungen von geistiger Ganzheit („Integrismus“) und bringt daher den Neoliberalismus nicht nur mit dem historischen Laisser-faire- oder dem sogenannten Manchester-Liberalismus, sondern sogar mit dem religiösen Liberalismus in Zusammenhang. Nach Daniel Villey ist diese antiliberale Haltung der Katholiken durch ihre anti-rationalistische, anti-naturwissenschaftliche, anti-utilitaristische, anti-protestantische und anti-revolutionäre Haltung bedingt, die in ihrem Wirtschaftsdenken vor den Physiograten

und kulturell vor der Renaissance stehengeblieben ist. — Wir könnten auch sagen, die antiliberale Haltung der Katholiken ist durch die Defensivstellung der Kirche während der sogenannten Neuzeit bedingt, mit deren Ende*

urri in freier Anlehnung an Romano Guardini zu sprechen, der Optimismus (kirch-licherseits der „falsche“ Pessimismus) dem Realismus weichen mußte. Von der radikalen Ein- und Umkehr der heutigen Wissenschaften begünstigt, ist auch die Auseinandersetzung der Katholiken mit deren Ergebnissen eine durchaus offensive geworden. Auch der Einbau der modernen Wirtschaftstheorie in die katholische Soziallehre ist heute viel weiter fortgeschritten, als es die breite katholische Oeffentlichkeit vor allem in Oesterreich wahrhaben will. Adolf Weber, der Nestor der „Sozialen Marktwirtschaft“, hat erst kürzlich die Führung des Wiener Professors Johannes M e ß n e r beim Aufbau der Sozialethik auf ein „unbefangenes, klares Durchdenken der sozialökonomischen Zusammenhänge“ gebührend hervorgehoben 5.

Es ist auch sehr bezeichnend, daß es gerade ein amerikanischer Katholik an leitender Stelle

der National Catholic Weifare Conference war, der die Diskussion in einer Tagung „D e r Christ und die soziale Marktwirtschaft“ Ende 1954 bei München fortsetzte, deren Ergebnisse nunmehr vorliegen*. Patrick M. B o a r m a n konnte es zunächst nicht verstehen, daß in Europa der Liberalismus von vielen Christen grundsätzlich abgelehnt wird. Er sei von seinem Vaterland her gewöhnt; „den Liberalismus als Grundlage von Wirtschaft und Politik zu verstehen, die sowohl die Un-' antastbarkeit der Einzelperson wie auch die Freiheit zur Entscheidung umfaßt“, und ist überzeugt, daß es gerade jenen liberalen Ideen zu verdanken ist, die man in Europa von christlicher, vor allem katholischer Seite verurteilt, daß sich in Amerika überhaupt erst das blühende christliche und katholische Leben entfalten konnte. Boarman ist sich über die historischen Ursachen des „antiliberaleh Affektes der Katholiken“ wohl im klaren, hält es jedoch für an der Zeit, „die überkommenen und verhärteten Fronten aufzulockern“.

Von gläubiger protestantischer Seite äußerten sich auf dieser Tagung die Neoliberalen Alfred Müller-Armack, der Schöpfer des Begriffes „soziale Marktwirtschaft“ im deutschen Bundeswirtschaftsministerium, und Alexander R ü s t o w, der Heidelberger Kultursoziologe und Nationalökonom. Diesen beiden sowie Dr. Wilfried Schreiber vom Bund Katholischer Unternehmer gelingt es, einer Reihe von kritischen Einwendungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Von Rüstow erfahren wir. daß eine Reihe von Doktorarbeiten seiner katholischen Schüler über das Verhältnis des neoliberalen Programms zur katholischen Sozialethik — je mehr man dabei ins Konkrete gegangen ist — eine desto stärkere Konvergenz ererben hätte, „oft zur Ueber-raschung aller Beteiligten“. Zu diesen Schülern Rüstows gehört auch Dr. Berthold Kunze, dem es um einen Standpunkt für die junge Generation geht. Kunze bestätigt den Eindruck, daß die Wiederaufnahme des christlich-humanisti-

1 Katholische Sozialpolitik am Scheideweg, Graz—Wien 1947, S. 8.

5 Dr. Wolfgang Schmitz: Sozialismus sucht neue Grundlagen (zu „Sodalism, a new Statsment of Prin-ciples, London 1952), Die Furche, 19. Juli 1952.

* Ernst Karl Winter: Die österreichische Wirtschaft und die Atomzivilisation, II. und III. Teil, Die Furche. 17. und 24. September 1955.

' Wilhelm Röpke: Die natürliche Ordnung. Kyklos H/3, Bern 194. S. 226.

* Kapitalbildung und Lohnkämpfe, Berlin 1955.

* Stuttgart—Köln 1955.

7 Was ist „Soziale Marktwirtschaft?“, Wirtschaft-politische Blätter, März 1954, S. 2.

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