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Karl Marx wie Pius XL ?

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Daß es „den“ Marxismus nicht gibt, weiß heute jeder. Schon in den Zwanzigerjahren schrieb ein so bedeutender Marxist wie der nachmalige österreichische Bundespräsident Karl Renner (1870—1950), daß die Berufung auf Karl Marx verwirrend und nicht aufklärend, spaltend und nicht vereinigend wirke. Das ist seither um ein Vielfaches ärger geworden. In dieser Situation wird heute behauptet, die kirchliche Soziallehre habe in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (QA, 1931) den Wahrheitsgehalt der Marxschen Lehre von der Klassengesellschaft und vom Klassenkampf übernommen. Das schien mir so unvereinbar mit der kirchlichen Soziallehre, daß ich in einem Artikel in den „Gesellschaftspolitischen Kommentaren“ (Bonn, 15. 6. 1974) dagegen Stellung nahm. Nun wurde anfangs dieses Jahres von der Katholischen Sozialakademie Österreichs (KSÖ) in Wien an die Bischöfe Österreichs eine Gegenschrift verschickt, worin durch die Nebeneinanderstellung von Texten aus Marx und aus „Quadragesimo anno“ (QA) gezeigt werden soll, „daß in den entscheidenden Punkten der Diagnose der Gesellschaftsverhältnisse (nicht aber in den Vorschlägen zur Therapie) die Ansichten von Marx und Pius XI. übereinstimmen“. Ich wollte gar nicht erwidern, bin aber gemahnt worden, es doch zu tun.

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Daß es „den“ Marxismus nicht gibt, weiß heute jeder. Schon in den Zwanzigerjahren schrieb ein so bedeutender Marxist wie der nachmalige österreichische Bundespräsident Karl Renner (1870—1950), daß die Berufung auf Karl Marx verwirrend und nicht aufklärend, spaltend und nicht vereinigend wirke. Das ist seither um ein Vielfaches ärger geworden. In dieser Situation wird heute behauptet, die kirchliche Soziallehre habe in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (QA, 1931) den Wahrheitsgehalt der Marxschen Lehre von der Klassengesellschaft und vom Klassenkampf übernommen. Das schien mir so unvereinbar mit der kirchlichen Soziallehre, daß ich in einem Artikel in den „Gesellschaftspolitischen Kommentaren“ (Bonn, 15. 6. 1974) dagegen Stellung nahm. Nun wurde anfangs dieses Jahres von der Katholischen Sozialakademie Österreichs (KSÖ) in Wien an die Bischöfe Österreichs eine Gegenschrift verschickt, worin durch die Nebeneinanderstellung von Texten aus Marx und aus „Quadragesimo anno“ (QA) gezeigt werden soll, „daß in den entscheidenden Punkten der Diagnose der Gesellschaftsverhältnisse (nicht aber in den Vorschlägen zur Therapie) die Ansichten von Marx und Pius XI. übereinstimmen“. Ich wollte gar nicht erwidern, bin aber gemahnt worden, es doch zu tun.

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Die Erwiderung ist einfach: die behauptete Übereinstimmung ist unmöglich. Denn ob sich auch noch so viele Parallelausdrücke bei Marx und in der kirchlichen Soziallehre finden, ihre Bedeutung ist völlig verschieden, weil ihnen ein völlig verschiedenes Menschen- und Gesellschaf ts-bjld zugrunde liegt. Wohl hat auch die christliche Soziallehre ihre Begriffe „Klasse“ und „Klassenkampf“. Aber, so schrieb ich schon 1934 in der „Sozialen Frage“ (S. 161), der auf die Monopolherrschaft des Proletariats und auf die klassenlose Gesellschaft abzielende Klassenkampf im Marxschen Sinn ist etwas ganz anderes als der an der sozialen Gerechtigkeit und am Gemeinwohl ausgerichtete Klassenkampf im Sinne der christlichen Soziallehre. Ihr Inhalt ist so verschieden wie der des Ausdrucks „Staat“ in der metaphysischen Staatslehre von Hegel und im Anarchismus von Bakunin.

Wirtschafts- und sozialgeschichtlich unhaltbar ist die Behauptung der KSÖ, daß „die weltweite Wirtschaftskrise Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre sicherlich insofern auf QA einen Einfluß ausgeübt hat, als die kapitalistische Klassengesellschaft unter anderem ein Riesenheer von Arbeitslosen zur Folge hatte.“ Das ist unrichtig, denn nicht die kapitalistische Klassengesellschaft war die Ursache der Arbeitslosigkeit, sondern die wirtschaftlichen und politischen Nachkriegsfolgen und die Ungewißheit über die weitere Entwicklung. Daher wollte niemand investieren. Daß wir genau diese Schwierigkeiten gegenwärtig erleben, hätte für die Verlegung der Ursache in die „kapitalistische Klassengesellschaft“ Vorsicht gebieten müssen. Denn die Ursache des heutigen „Riesenheeres von Arleitslosen“ liegt in der jahrelangen Überforderung des Sozialprodukts durch die Interessenverbände. Die angebliche kapitalistische Klassengesellschaft der Industrieländer hat dagegen die Vollbeschäftigung und Uberbeschäftigung (Gastarbeiter), den allgemeinen Wohlstand und die Uberwindung des Pro-letarismus ermöglicht. Heute liegen so weitgehend andere wirtschaftliche und soziale Verhältnisse vor, daß deren Analyse mit dem Begriffsapparat der QA, wie die KSÖ sie unternimmt, wirklichkeitsfremd wird.

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Wirklichkeitsfremd, sagt der Bewunderer von Marx, Joseph A. Schumpeter (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1946, 39) ist auch die von Marx vorgenommene Scheidung zwischen Menschen, die ein für allemal als Kapitalisten oder als Proletarier gelten, ja, sagt Schumpeter, sie „ist nicht nur, wie schon oft gezeigt wurde, äußerst wirklichkeitsfremd, sondern übersieht den springenden Punkt in be-zug auf die sozialen Klassen, den unaufhörlichen Aufstieg und Niedergang von einzelnen Familien in die obere Schicht hinein und aus ihr heraus. Die Tatsachen, auf die ich anspiele, sind alle offensichtlich und unbestreitbar.“ Man vergleiche dazu auch W. Bienert, der überholte Marx (2. Aufl. 1974, Evangel. Ver-lagsw. Stuttgart).

Wirklichkeitsfremd erscheint es, wenn man mit dem Blick auf die heutige Industriegesellschaft, wie die KSÖ in ihrer Gegenschrift, Leo XIII. zitiert, daß eine kleine Schicht vermögender Leute „eine breite Masse von Besitzlosen in beinah sklavischer Abhängigkeit hält“ und daneben aus Marx (MEW: Marx-Engels-Werke) die Stelle von „der offenen, unverschämten, direkten Ausbeutung“ mit der Betonung des „nackten Interesses“ setzt. Denn heute sind die Gewerkschaften, Gott sei Dank, stark genug, „sklavische Abhängigkeit“ und „unverschämte Ausbeutung“ zu verhindern.

In Verlegenheit gerät die KSÖ in der Frage der geschichtlichen Ursachen der Klassenbildung und der Klassengesellschaft. Zu den beiden Fragen muß sie feststellen, daß das Rundschreiben QA „keine direkte Antwort“ und „keine genaue Auskunft“ gibt. Eine solche fehlt auch bei Marx. „Merkwürdigerweise“, sagt Schumpeter (a. a. O. 33), „hat Marx das, was offensichtlich einer der Tragpfeiler seines Gedankenbaues war, unseres Wissens nie systematisch ausgebaut“; er habe sich den Weg zu einer voll entwickelten Klassentheorie verbaut, weil „er auf einer rein ökonomischen und übervereinfachten Konzeption des Phänomens bestand“, nämlich dem Schichten bildenden Prinzip des Eigentums. Joseph Schumpeter dürfte mit seinem harten Urteil recht haben, daß Marxens Theorie der sozialen Klassen „nicht einmal bei den günstigsten Anlässen irgendwie dem Kern des Phänomens nahe kommt, das sie zu erklären beabsichtigt, und die nie hätte ernst genommen werden sollen“. Tatsächlich wird ja heute von der Arbeiterschaft selbst nicht mehr von Proletariat gesprochen, ihr gesellschaftlicher Status und ihr heutiger Lebensstil ist ein anderer als Ende der zwanziger Jahre, als QA geschrieben wurde.

Was in QA und im Entwurf der KSÖ bei der Erwähnung der, „Ver-machtung“ der Wirtschaft nicht aufscheint, ist die Macht der Gewerkschaften. Sie war zur Zeit, als die Enzyklika geschrieben wurde, nicht so groß, weil infolge der Arbeitslosigkeit die Bezahlung der Gewerkschaftsbeiträge teilweise aussetzte. Heute kann man aber nicht, wie es durch die KSÖ geschieht, von Ver-machtung der Wirtschaft schreiben, ohne die Macht der Gewerkschaften zu erwähnen. Mit diesem Hinweis auf ihre Macht ist selbstverständlich nichts gegen die Gewerkschaften als solche gesagt. Ich habe sie schon in der „Sozialen Frage“ und seither immer als Ordnungsorgan der Volkswirtschaft betrachtet und behandelt. Um die heutige Macht der Gewerkschaften zu ermessen, denke man allein an den vorjährigen englischen Kohlenbergarbeiterstreik, der die konservative Regierung zur Ausschreibung von Neuwahlen zwang. Diese eröffnete die Wahlpropaganda mit der Frage: „Wer regiert England?“ Sei dies Sache des vom Volk gewählten Parlaments mit der von diesem bestellten Regierung oder Sache einer Gewerkschaft? Die Wahlentscheidung fiel zugunsten der Sozialisten, die nun sehen müssen, wie sie mit der enormen Arbeitslosigkeit und Inflation zurecht kommen. In der BRD hatten schon vorher die Beamten des Saarlandes und die Fluglotsen auf Grund der Monopolmacht ihrer Gewerkschaften der Bundesregierung ihren Willen aufgezwungen, entgegen der am allgemeinen Interesse orientierten Wirtschaftspolitik.

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Uber die ideengeschichtliche Entwicklung der Analyse der Klassengesellschaft wird in dem Entwurf der KSÖ bemerkt, daß „Marx nicht der erste ist, der diese Gesellschaftsanalyse anstellte.“ Nicht erwähnt wird aber die für die katholische Soziallehre höchst wichtige Tatsache, daß katholischerseits die Klassenspaltung der Gesellschaft schon lange vor Marx gesehen und behandelt wurde. Die katholische Soziallehre hat es daher gar nicht nötig, Anleihen bei Marx zu machen. In den vom Presseamt des Erzbistums Köln herausgegebenen Referaten bei der Feierstunde anläßlich der 75-Jahrfeier des Diözesanverbandes der KAB im Erzbistum Köln am 5. April 1975 schreibt Professor Dr. Edgar Naw-roth OP, der Herausgeber der „Neuen Ordnung“, in seinem Referat „Christliche Sozialbewegung in der geschichtlichen Bewährung“ (S. 12) über „vormarxistische Kritik des liberalen Kapitalismus“:

„1. Die erste Welle scharfen Protestes gegen die unsozialen Auswirkungen der beginnenden Industrialisierungsepoche wurde bereits vor der Marxschen Kritik von vier katholischen Publikationsorganen in die breite Öffentlichkeit getragen: durch die Münchner Zeitung EOS, 1818 gegründet als Sprachrohr des aktiven Görreskreises; durch den Mainzer .Katholik', gegründet 1821, wegen seiner scharfen kritischen Sprache verschiedentlich durch die zuständige Regierung verboten und daher zeitweise in Straßburg gedruckt; durch die .Historisch-politischen Blätter' von Görres, anläßlich der Kölner Wirren (1837) ins Leben gerufen; und durch das .Mainzer Journal', das 1848 ebenfalls mit einer aufklärenden Artikelserie in die Auseinandersetzung eingriff.

2. Die erste grundlegende Kritik des liberalen Kapitalismus aus volkswirtschaftlicher Sicht in Verbindung mit dem ersten realistischen Entproletarisierungsentwurf zugunsten des rechtlosen vierten Standes findet sich in der programmatischen Denkschrift Franz von Baaders vom Jahre 1835, mit der er die Marxsche Analyse bis ins Detail vorwegnahm.

3. Den ersten parlamentarischen Vorstoß für eine umfassende Arbei-terschutzgesetzgebung unternahm Franz Josef von Büß im Jahre 1838 mit dem Fabriksgesetzgebungsent-wurf seiner Aufsehen erregenden .Fabrikrede' im Badischen Landtag; August Bebel selbst hat sie im Jahre 1904 im Geleitwort zu einem Neudruck als Pionierarbeit gewürdigt.

4. Für das Erwachen des sozialpolitischen Problembewußtseins auf katholischer Seite war weiterhin grundlegend der Programmentwurf des Juristen Peter Reichensberger über die Agrarfrage vom Jahre 1847. Er hat ebenfalls in durchaus realistischer' Sicht die Massenarbeitslosigkeit und Massenverelendung, des seinem vorausschauenden Sozialprogramm finden sich bereits Vorschläge und Forderungen, die für uns heute selbstverständlich sind, auf seine Generation aber provozierend wirkten: der Genossenschaftsgedanke als Organisationsprinzip wie auch die Forderimg der staatlichen Interventionspolitik und wirksamer Arbeiterschutzgesetzgebung, nach Assoziationsfreiheit und parlamentarischer vierten Standes als dringende Ordnungsfrage des Staates sowie der gesamten Nation herausgestellt. In Vertretung für die Arbeiterschaft; ferner Ausführungen über die Sozialgebundenheit des Privateigentums wie auch erste Überlegungen über Gewinnbeteiligung der Arbeiterschaft zur Hebung ihres Lebensstandards.“

Von Franz von Baader sei erwähnt, daß die in Frage stehende Schrift von 1835 heißt: „Über das

Mißverhältnis des Vermögenslosen oder Proletariers zu den Vermögen besitzenden Klassen“. Dazu schrieb ich schon 1934 in der Sozialen Frage“ (S. 433): Franz von Bader erkennt klar die Klassenschichtung, sieht die im individualistischen Kapitalismus mit dem Kapitaleigentum verbundene Eigentumsherrschaft im Sinne gesellschaftlicher Herrschaftsgewalt, erkennt die Möglichkeit des Zusammenschlusses der Arbeiterschaft zur Stärkung ihrer Stellung gegenüber der Monopolstellung der Fabriksherren bei Abschluß des Arbeitsvertrages, macht die freie Konkurrenz als Formprinzip der kapitalistischen Wirtschaft für das Schicksal des „Proletärs“ verantwortlich. Und dann fügte ich schon damals an: Daß dies alles schon lange vor Marx von einem Katholiken klar erkannt wurde, „muß betont werden gegenüber dem Irrtum, als wäre diese Erkenntnis erst der Kapitalismusanalyse von K. Marx zu danken“. Daher noch einmal: Die kirchliche und katholische Soziallehre braucht keine Anleihe bei Marx zu machen, dies umso weniger, als von Baader die Arbeiterfrage als eine solche des Rechts sieht und gegenüber der Entrechtung der Lohnarbeiterschaft seiner Zeit ihre Eingliederung in die Gesellschaft fordert, also auf den Weg der Sozialrefprm und Gesellschaftspolitik verweist, entgegen der dann von Marx vertretenen klassenkämpferischen Sozialrevolution. Es Ist der Weg, den später Bischof Ketteier, Franz Hitze, Franz Schindler, Heinrich Pesch mit sehr vielen anderen und schließlich Johannes XXIII. in Mater et Magjstra gegangen sind.

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