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Digital In Arbeit

Das Buch des „roten Kardinals“

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„Die Kirche und die soziale Frage" lautet die von Edgar Alexander besorgte und vom erzbischöflichen Ordinariat in Paris autorisierte deutsche Ausgabe des Buches von Kardinal Jean Verdier (t 1940): „Problemes Sociaux et Riponse Chretienne“ . Nochmals wird zusammengefaßt, was die Kirche vor Leo 'XIII., aber auch nach ihm, in der sozialen Frage bekundete. Daß hieraus Ideen gezogen werden, gerade sozialpolitische Maximen, die im österreichischen Sozialkatholizismus schon vor zwei Generationen galten, hingegen im französischen noch oder erst zeitgemäß scheinen, ist die große Überraschung, welche die Schrift, beziehungsweise ihr Übersetzer, dem österreichischen Publikum bereitet. Diese ideengeschichtliche feemoftstration fechtfertjgt auch die Ubersetzung.

Der aufschlußreichste Teil der Kardinalstudie rührt an die vier weltgeschichtlidien Organisationsformen der Arbeit: die antike Sklaverei, die feudale Leibeigenschaft, die kapitalistische Lohnarbeit und schließlich die jüngste Form:, die totalistische Staatsleibeigenschaft. Treffend kritisiert der Kardinal diese mannigfaltigen Prägungen des „Arbeitsrechtes" vom Standpunkt der christlichen Moral; und er fühlt sich angesichts der Ausschreitungen von „Kapital“ und „Arbeit“ gezwungen, um das Maß der Mitte zu halten, im Sinne der Kirche als Steuermann „zu manövrieren“ (41). Denn, schreibt Verdier: „Will die Kirche den Kurs halten, dann muß sie das Ruder bald nach links, bald nach redits herumwerfen"

(41).

Diese Taktik macht es auch sehr gut verständlich, warum zur Abwehr der Staatsleibeigenschaft, wie sie der Faschismus aller Farben begründet, Kardinal Verdier das Eigentum, seinen Wert für die persönliche Freiheit, doppelt und dreifach unterstreicht (84). Et unterstreicht aber nicht nur die naturrechtliche Form des Eigentums damit. Akut wird auch „die Form des kapitalistischen Eigentums“ (61) verteidigt. Er nennt sie „das passive kapitalistische Eigentum“, das Eigentum „ohne Obsorge“, das Eigentum ohne „irgendeine Form der Mitarbeit“, das pflichtenlose Eigentum im streng rechtlichen Sinn (61, 66). Der Kardinal stellt sich auf den Boden der klassischen Definition Ulpians, wonach das Eigentumsredit ein Jus utendi et abuntendi re sua sei (69, 83), ein Recht auf Gebrauch, aber audi auf Mißbrauch der eigenen Sache, eine These, welche sdton vor 20 Jahren und mehr in Österreich heftig umkämpft und sauber herausgearbeitet wurde.

Es hieße aber den Kardinal mißverstehen, aus seiner Bejahung des kapitalistischen Eigentums eine Verneinung der sozialen Funktion des Eigentums überhaupt abzuleiten. Im Gegenteil. Verdier bejaht

Kardinal Jean Verdier: ..Die Kirche und die soziale Frage". Mit einem Nachwort: „Lebendiger Katholizismus“ von Edgar Alexander. Europa-Verlag, Wien-ZUrich-New York.

diese soziale Funktion des Eigentums. Nur erkennt er diese nicht im Recht, sondern in der „Nächstenliebe“ befindlich. Die soziale Funktion des Eigentums „findet daher keinen Platz in einer Definition, welche die für den Gebrauch der Staatsgewalt unumgänglich nötigen Präzisionen enthält" (83). Gewiß ist das eine „Lücke“, gibt Verdier zu, allerdings eine notwendige Lücke, Welche das strenge Eigentumsrecht auch als ein Recht auf Mißbrauch dės Eigentums erleiden muß, und welche nach Ausfüllung drängt. Verdier kommt auch diesem Mangel entgegen und damit zum entscheidenden Satz seines Systems: „Diese Lücke wird von der Theologie aufs glücklichste durch die Lehre Vö'W A Ihn ö s e rF'-a'u s!g e f ü 11 V (83).

-.Damitrist der Diskussions tgncj J?s fat.n- zösischen Sozialkatholizimus, wie er von der Schule von Angers der Petin und Le Play 30 Jahre vor Rerum novarum vertreten wuyde, teilweise zurückgerufen, ob durch Liebe und Almosen die soziale Funktion des Eigentums gesichert und mit dieser Methode die "soziale Frage gelöst werden könne. Die begreifliche Angst vor dem „Staat“, welche vor 70, 80 Jahren die französischen und auch die deutschen Katholiken — im Gegensatz zu den fortschrittlich österreichischen — ergriff, die Angst vor dem „Freimaurerstaat“ linksrheinisch und vor dem „Bismarck-Staat“ rechtsrheinisch, scheint wohl im Betracht der faschistischen Staatsexzesse bei Verdier wieder lebendig und die von Leo XIII. schön geforderte Staatsintervention in der sozialen Frage zu kurz zu kommen.

Aber nicht nur die „nichtinterventionistische“ Note der Schule von Angers, auch ihre „liberal-kapitalistische“ wird aufs neue hervorgeholt. Das „kapitalistische System“ findet Kardinal Verdier „an sich nicht schlecht“ (63). Er lehrt mit der Kirche, „daß ein kapitalistisches Regime auch gerecht und wohltuend sein kann“ (117). Das alles ist, von der Theologie her gesehen, richtig. Zuviel in dieser Richtung aber geschieht, wenn der Kardinal auf Bourdaloue sich stützt, der für „notwendig“ hält, „daß es Arme gebe, damit in der menschlichen Gesellschaft eine Rangordnung und also Ordnung herrsche“ (71). Diesem offenbaren „Rangordnungsbild“ einer Zweiklassengesellschaft entsprechend wird auch — und dies nach Quadragesimo anno, welche das Klassendenken abbaut, — von einem „Stand der Eigentümer" gesprochen (53) und ihm und seinem Kapital, „in welcher Form es erscheinen mag“, theoretisch und praktisch, ein „Vorrang“ zugebilligt (56, 65 f.). Desgleichen mißverständlich ist die kultursoziologische Begründung davon, „daß es meist gerade die Eigentümer bedeutender Unternehmen sind, aus denen sich die Elite der Gesellschaft rekrutiert; daß aber eine solche Elite sich bildet, ist von allgemeinem Nutzen. Sie ist die Hüterin verfeinerter Gesellschaftskultur“ (57).

Wohl wissen wir, daß die Kommandowirtschaft — notwendig Kommandokunst und Kommandowissenschaft nach sich zieht und alle Kultur auf „Kraft durch Freude" reduziert. Wir wissen auch, daß Kunst und Wissenschaft zumeist in der Atmosphäre großer Verschenker gediehen ist und nur selten an der Knute oder am Zopf des Staates sich emporrankte. Wir verstehen auch die Versuchung, der totalen Wirtschaftsordnung, welche, aus Not und Neid geboren, die Erzeugung zum Ersticken bindet, die kapitalistische aus Gründen des Gemeinwohls vorzuziehen. Trotzdem scheint uns Kardinal Verdier sein „Ruder“ allzusehr nach „rechts“ geworfen zu haben, um „links“ auszugleichen. Das spürte offensichtlich auch der Kardinal. Er reflektiert auf seine Rangordnung, auf den Vorrang des Eigentums, auf den Nachrang der Arbeit, niit der resignierenden Bemerkung nämlich, daß „man sö allem Anschein nach am besten, wenn schon nicht den Forderungen der Gerechtigkeit, so doch dem Gebot der Billigkeit entspricht" (66)!

So glaubte der Kardinal gewiß an eine bessere Ordnung als die gegenwärtige; er bekannte sich aber zu dieser als einer vorläufig besten Sicherung der Freiheit und auch der Arbeit. Verdier, der Verteidiger der Kirche und der großen Demokratien (135), der Wohltäter der Arbeiterschaft, der „rote Kardinal“, wie Paris ihn nannte, zelebrierte geradezu den „sakralen Charakter“ des Eigentums (46), um auf diesem taktischen Wege die Arbeit, die Arbeiterschaft, vor der totaüstischen Versklavung, vor der Staatsleibeigenschaft, zu retten.

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