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„Mutter und Lehrerin”

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In seiner Enzyklika verweist daher der Papst auf den gewandelten Inhalt der Eigentumsordnung. War ehedem der Eigentumstitel die bestmögliche ökonomische Sicherung gewesen, bieten sich dem Menschen in der Gegenwart unterschiedliche Möglichkeiten der kontinuierlichen Versorgung dar, jenseits der Innehabung von Eigentum an Produktionsgütern. Ein Beispiel sind die Ansprüche an die Institute der Sozialversicherung, die, weil sie Forde- rungscharakter haben, auch als mögliches Eigentum angesehen werden. Die durch Leistungszusicherungen der gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen herbeigeführte Reduktion der Versorgungsgewichtigkeit des Eigentums darf aber nicht übersehen lassen, daß die Institution des Privateigentums auch an den Produktionsmitteln als ein Grundrecht des Menschen eine bleibende Gültigkeit hat, steht doch der einzelne seins- und zielhaft im Rang vor der Gesellschaft.

Gleichzeitig mit der Feststellung der fundamentalen Bedeutung des Privateigentums verbindet der Heilige Vater eine Indizierung jener politischen Herrschaftssysteme, welche vorweg das Recht an Privateigentum (auch an Produktionsmitteln) leugnen. Mit der Liquidation der Einrichtung des Privateigentums wird auch der Freiheit des Menschen der Prozeß gemacht. Soweit die Enzyklika dem Privateigentum einen Vorrang vor den anderen Formen des Eigentums zuerkennt, geht sie offenkundig von Nützlichkeitserwägungen aus, von der sachlich besseren Eignung des privaten Eigentums für die Sicherung des Gemeinwohles, verschließt sich aber nicht dem Tatbestand, daß eine totale Eigentumsordnung zumindest unrealistisch ist. Privateigentumsordnung soll nicht be deuten, daß nur physische Personen Eigentumsrecht erwerben können, sondern daß jede physische Person die Chance in der gegebenen Ordnung vorfinden soll, Eigentum zu erwerben. Jede Person. Der Heilige Vater verlangt aus diesem Grund eine Verstärkung der Möglichkeiten des Eigentumserwerbes, eine Streuung des Eigentums von dauerhaften Konsumgütern bis zu Aktien.

Die Wirklichkeit der Eigentumsverteilung wird jedoch nicht übersehen! die Tatsache, daß der Staat vermöge der in seinem Eigentum befindlichen Institutionen Vorleistungen bietet und auch — als Folge des Wachsens der Kollektivbedürfnisse — bieten muß, um sie dem Staatsbürger zuzueignen (Appropriation). Ohne die permanent gebotenen Vorleistungen der Gebietskörperschaften könnte der Bürger kaum seinen derzeitigen Lebensstandard aufrechterhalten. Ebensowenig verficht der Papst — unausgesprochen — die Annahme einer Gleichsetzung von öffentlichem Eigentum und Kollektiveigentumsordnung. Bestünde eine solche, hätte eine Privateigentumsordnung keinen Bestand. Die ideale Ordnung ist jedenfalls eine gemischte Eigentumsordnung, wobei es im einzelnen freilich auf die Proportionen ankommt, die regional verschieden ‘sind. Wenn nun der Staat Eigentümer von Produktionsmitteln ist, muß er das Subsidiaritätsprinzip beachten, im Interesse des Gemeinwohles, das zu wahren ihm ex offo aufgetragen ist. Das bedeutet: Der Staat darf den Bereich seines Eigentums nur so weit ausdehnen, bis er einen ihm vom Gemeinwohl vorgegebenen Plafond erreicht hat. Wer aber öffentliches Eigentum verwaltet, muß nicht nur sachlich, sondern auch charakterlich geeignet sein.

Alle Sorge darf die Landwirtschaft jedoch nicht den Gebietskörperschaften auflasten; sie muß auch von sich aus an eine Berichtigung ihrer sozialökonomischen Situation gehen, sei es durch die Wahl entsprechender (optimaler) Betriebsgrößen, sei es durch die Aktivierung einer genossenschaftlichen und politischen Selbsthilfe, die beide eine der vornehmsten Demonstrationen des Solidaritätsprinzips darstellen können.

Neben einem Lastenausgleich für die Landwirtschaft fordert der Heilige Vater Gleiches für die unterentwickelten Regionen innerhalb der einzelnen Staaten. Dabei sollen die Interventionen sowohl die Form staatlicher Hilfemaßnahmen annehmen, wie auch sich als unternehmerische und örtliche Selbsthilfe darstellen.

Die Gerechtigkeit ist ein Absolutes. Es gibt keine Klassengerechtigkeit und keine Rassengerechtigkeit. Die Notwendigkeit ausreichender Versorgung der Menschen muß daher als eine der Menschheit verstanden werden. Wo Lingleichgewicht in der Versorgung besteht, muß es beseitigt werden, wo immer es sei. Das führt zur Forderung nach kostenloser Hergabe von Verbrauchsgütern an die Hungernden in der Welt und nach Entwicklungshilfe. Bei Gewährung von Hilfeleistung und von Hilfestellung soll jedoch auch nur der Schein der Etablierung eines neuen Kolonialismus vermieden werden. Dabei ist die Gefahr nicht zu übersehen, daß mit der Hilfeleistung auch der Geist der Helfer importiert wird. In den unterentwickelten Ländern haben die Menschen (und sei es nur aus Überlieferung) noch immer ein lebendiges Bewußtsein der humanen Werte. In den wirtschaftlich entwickelten Ländern wird dagegen der materielle Wohlstand den geistigen Werten übergeordnet. Sollte die in den Geberländern vorhandene Wertordnung auch auf die unterentwickelten Länder übertragen werden, könnte dies einen „Fallstrick” darstellen.

Zum Schluß geht der Heilige Vater auch noch auf die Frage der Übervölkerung ein, die als ein relativer Begriff verstanden werden muß, als ein Mißverhältnis zwischen Versorgungschancen und Bevölkerungszahl. Statt aber die Zahl der Menschen zu beschränken, soll die Menschheit darangehen, die Versorgungsfonds zu vergrößern, welchem Zweck auch internationale Aktionen dienen müßten.

Ebenso ist ein formell wohlfundiertes Ordnungsgerüst ohne Belang — etwa eine berufsständische Ordnung —, wenn nicht die einzelnen Menschen (endlich) das Sittengesetz auch im sozialen Bereich realisieren. Das Gewicht der Aussage liegt daher nicht in Hinweisen auf Ordnungssysteme, sondern im Anruf an den einzelnen.

• Unbestritten ist das Recht auf Privateigentum, eines der Grundrechte des Menschen. Gleichzeitig aber wird die Eigentumswirklichkeit zur Kenntnis genommen: die gemischte Wirtschaft, in welcher das öffentliche Eigentum eine auch moralisch gerechtfertigte Position einnimmt, soweit es dem sozialen Ausgleich dient und nicht das Ge- meinwohl gefährdet. Wenn der Heilige Vater sich der Vorzüge des Privateigentums nicht verschließt, ist er der Ansicht, daß die Chance, Eigentum — auch an Produktionsmitteln — zu erwerben, zu einer allgemeinen Chance werden und die Eigentümerelite durch eine Eigentümermasse ersetzt werden soll.

• In den ersten zwei Sozialenzykliken waren die sozialreformatorischen Po- stulate auf die Entproletarisie- r u n g fixiert gewesen, also auf die Reparatur der Industriegesellschaft. Gegenstand der Sorge von Johannes XXIII. ist die Welt gesellschaft, das Ganze jener Menschen, die an den Rändern des Lebens in einer Weise leben müssen, die in Widerspruch zu unseren Auffassungen vom Existenzminimum und vom Komfort steht. Ent- proletarisierung bedeutet nicht mehr einen schichtenspezifischen Ausgleich (innerhalb der Industriegesellschaft), sondern einen weltweiten Ausgleich: Ein Land trage des andern Last. Nicht allein das „Kapital” wird aufgerufen, die Menschen aus den Kümmerzonen des Lebens herauszuholen, sondern ganze Länder sind aufgefordert, von ihrem Überfluß zu geben, Güter, Kredit und Ratschlag. Die Kirche demonstriert sich als Weltkirche und, wenn wir wollen, als Allklassenkirche; ihre Sorge gilt allen Klassen und Rassen.

• Daher wird neben dem Block der unterentwickelten Länder auch erstmalig der Wirtschaftsbereich der Landwirtschaft zum Gegenstand sozialer Sorgemaßnahmen erklärt und nicht mehr als eine in gesicherter Abgeschiedenheit befindliche Teilgesellschaft angesehen.

• Mehr noch als bei „Rerum no- varum” und „Quadragesimo anno” tritt bei „Mater et Magistra” das Seelsorgliche in den Vordergrund der Darstellung. Die Kirche ist Autorität in Fragen des moralischen Belangs sozialer und ökonomischer Angelegenheiten, nicht aber in Fragen der Technik sozial- und wirtschaftsorganisatorischer Durchführung. Aus diesem Grund sind die politischen Bezüge der Enzyklika minimal und lediglich da erkennbar, wo politische Erscheinungen geeignet sind, die Realisierung der Prinzipien der katholischen Soziallehre (die nur allgemeinste Grundsätze darstellen) zu gefährden oder zu unterstützen.

Wie immer die Interessenten die Enzyklika deuten werden, sie hat den Charakter einer Seelsorgsenzy- k 1 i k a, einer Herausforderung an die Welt: umzudenken und sich auch in ihrem sozialen und ökonomischen Gefüge zu erneuern. Um des Menschen willen, der zu seiner Wesensdarstellung eines angemessenen Maßes an materiellen Gütern und einer gesicherten Position in der Gesellschaft bedarf.

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