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Rezeptartige Lösungen

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Unbefangen überträgt man die Tatsache, daß die katholische Dog-matik konkreteste Aussagen mit letzter Festigkeit unterstreicht — die Taufe ist nur heilswirksam, wenn sie mit natürlichem Wasser und unter genau fixierten Worten gespendet wird —, auf die Gesellschaftslehre der Kirche; dabei werden jedoch wesentliche Unterschiede vernachlässigt. Der sogenannte Katholizismus — etwas anderes als die Kirche, erst recht nicht der amtlichen Lehre identisch — vertritt mit Vorliebe überkommene Ansichten und Einrichtungen und gibt sich dennoch apodiktisch sicher. Insgesamt kommt er einem ausgedehnten Katalog rezeptartiger Lösungen der gesellschaftlichen Probleme gleich. Wieder wird unbedacht supponiert, hier sei das Grundgesetz der katholischen Gesellschaftsethik deutlich. Zudem soll die Tatsache, daß die Kirche Monarchie ist, besagen, das Lehramt tue sich leicht, jede einschlägige Ordnungsfrage, möge sie noch so konkreter Natur sein, endgültig und mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit zu entscheiden. Es wird übersehen, daß die große Zahl der Verlautbarungen entweder bewußt allgemein formal gehalten ist oder so formuliert wurde, daß der weiteren Diskussion Raum gegeben bleibt. Weil die katholische Gesellschaftsethik das Naturrecht verteidigt, soll es ihr wie den aufgeklärten Naturrechtssystemen des 18. Jahrhunderts eigen sein, die verwickeltsten Fragen des gesellschaftlichen Alltags mit Antworten zu bedenken, die den Anspruch erheben, die einzig natürlichen und selbstverständlichen zu sein; sie gebe exakt bis auf mehrere Stellen nach dem Komma an, was hier und jetzt gerecht sei. Mögen manche Katholiken und Anhänger der katholischen Gesellschaftslehre derartiges versucht haben, diese selbst ist dazu ihrer Struktur nach nicht in der Lage.

Erschreckende Spannungen

Schon die Geschichte der katholischen Soziallehre hätte stutzig machen müssen. Denn ein solches Maß an widersprüchlichen Auffassungen und endlosen Debatten, wie es hier zu beobachten ist, vor und nach den einschlägigen päpstlichen Äußerungen, ist mit einer bis ins einzelne ausgefüllten und durchgängig verbindlichen Planskizze nicht vereinbar. Es sei an die Spannungen zwischen der Vogelsang-Schule und den nordwesteuropäischen Katholiken erinnert, die sich an Le Play, an Charles Perin oder Mönchengladbach anschlössen, an die „Wiener Richtungen“, an die schroffe Frontstellung, in der Sozialwissenschaftler unter den Jesuiten einander gegenüberstanden, im 19. Jahrhundert, in der ZwischenPhoto: Archiv kriegszeit und auch nach dem zweiten Weltkrieg. Außenstehende, die diese Spannungen erstmals zu Gesicht bekommen, erschrecken zutiefst. Für die Beteiligten wies August Lehmkuhl SJ. schon 1890 auf die „individuelle Freiheit“ hin, die die Freunde der katholischen Soziallehre aktiver sein lasse, „als es manchem erwünscht“ sei. Die katholische Gesellschaftsethik als solche ist eben offener als es selbst ihren Anhängern erwünscht ist.

Gewiß bleibt es nach wie vor dabei, daß tragende Grundwerte — die Institutionen des Staates, der Einehe, der Familie, des Privateigentums — hart und eindeutig als unverzichtbar erklärt sind. Sei das abzuwehrende Nein nach Art der negativen Leitideen expressis verbis vorgetragen oder in praktischen Übergriffen versteckt, die katholische Gesellschaftsethik setzt ihm unbekümmert um modische Vorlieben eine ethische Institutsgarantie entgegen und hält an dieser fest. Anders ist es jedoch, sobald ein anerkanntes Recht oder eine Institution — die Staatlichkeit, die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie, das Privateigentum an Produktionsmitteln — fortzuentwickeln ist, sooft ein Wert mit anderen zu integrieren ist, jedesmal wenn das eine Ziel der Gesellschaft oder Volkswirtschaft zugunsten anderer bis zu einem gewissen Grade vernachlässigt werden soll. Kurz: anders ist es in den weitaus meisten Fällen, in denen es in der westlichen Welt um das Pro und Kontra zu einer gesellschaftlichen oder volkswirtschaftlichen Frage geht. Geschichtlich gesehen werden hier sofort Schulmeinungen innerhalb des Katholischen sichtbar; und das mit einer gewissen Notwendigkeit ; denn die katholische Gesellschaftslehre läßt in den weitaus meisten Fällen den Ermessensspielraum offen, so, anders oder in einer dritten Weise voranzuschreiten. In der Regel ist sie vor konstruktiven Aufgaben mehrdeutig. Ihre Handlungsanweisungen sind rahmenhafter Natur (!).

Rahmenhafte Anweisungen nötigen zum Dialog, zu einem Meinungsaustausch, der nicht durch die unterschwellige Vermutung verschärft ist, der Gegenüberstehende verkenne oder verrate gar einen durch die Lehre grundsätzlich geschützten Wert; sie nötigen zur Konvention. Der entrüstete Gestus ist fehl am Platze; es zählt nur das Argument und die Begründung. Im Ergebnis drängt jedes Problem dahin, Außenstehende und Kirchenfremde in das Bemühen um die rechte Lösung ein-zubeziehen, die parallel zu den Christen um die konstruktive Entfaltung der gesellschaftlichen Gebilde besorgt sind.

Weitverbreitete Verkennung

Rahmenhaft allgemeiner Natur sind die positiv-weisenden Grundaussagen der katholischen Gesellschaftslehre — von den ethischen Wert- und Institutionsgarantien ist hier nicht mehr zu reden —, insofern sie ihrem Gegenstand — der Volkswirtschaft, ihrer Ordnung und ihren Zielen, der Gesellschaftspolitik, den ständischen Gebilden, den Gewerkschaften oder wem auch immer — sensu positivo und nicht sensu exclu-sivo gelten, das heißt, insofern sie verlangen, daß bestimmte Wertgehalte positiv beachtet werden, jedoch mit keiner Andeutung fordern, nur diese zu respektieren beziehungsweise diese um jeden Preis vorzuziehen. In bezug auf die Ordnungsprobleme der freien Welt ist das der Normalfall. Neben dem Ziel, dem zu dienen vorgeschrieben wird, bieten sich Dutzende andere Teilziele und Zielgehalte zur Verwirklichung an, und zwar hier diese und dort jene, heute andere als morgen. Von diesen Möglichkeiten und Anregungen spricht die formulierte Vorschrift nicht. Dieses

Schweigen aber ist nicht ein Verachten oder Vernachlässigen, vielmehr nichts anderes als eine Form der Abstraktion, von der ein uralter Satz sagt: „Abstractio non est negatio.“ Bevor jedoch aus der Anweisung, die einem der beteiligten Werte zu dienen bestrebt ist, ein unmittelbar praktischer Imperativ wird, hat die handelnde Person das Gewicht aller Zielmomente zu würdigen, die direkt oder indirekt berührt sind. Der zum Handeln Entschlossene oder Gezwungene erkennt den verschiedenen Zielen und Zielmomenten, die zur Kombination oder Auswahl anstehen, nolens volens nach seinem Wertbewußtsein eine nuancenhaft differenzierte Ranghöhe und Dringlichkeit zu. Da die Ordnungswerte weitgehend nicht qualiflzierbar sind, ja kaum in rational schlüssiger Weise skaliert werden können, gibt es kein intersubjektiv beweiskräftiges Schema, nach dem man sie jeweils so zusammenfügen könnte, daß ein Höchstwert resultiert, der als solcher objektiv erweisbar wäre. Die katholische Gesellschaftsethik stellt strukturell in hohem Grade auf das wertbewußte Ermessen der Urteilenden und Handelnden ab. Es ist eine leider weit verbreitete Verkennung, ihre Leerformeln und allgemeinen Sätze seien unmittelbar praktikable Anweisungen.

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