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Digital In Arbeit

Die Frage der Arbeiter wurde neu gestellt

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Nach dem mißglückten Anschlag des 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler versuchte das NS-Regime die Verschwörer als kleine verbrecherische Offiziersclique abzutun, und auch in der späteren Literatur darüber kommt häufig zum Ausdruck, hier seien Männer mit überholten Auffassungen am Werk gewesen. Der Autor dieses Beitrags war mit maßgeblichen Personen jener Gruppe bekannt, mit ihren Absichten wohlvertraut und auch als Formulierungshelfer mit am Werk. Es handelte sich um den gewerkschaftlichen Widerstandskreis in Berlin, in dem neben Graf Stauffenberg und Goerde-ler auch Jakob Kaiser und Wilhelm Leuschner verkehrten. Hauptziel dieses Kreises war die Errichtung einer gewerkschaftlichen Einheitsorganisation nach Hitler. Reichhold erinnert im folgenden an eine Artikelserie, die von diesem Kreis als geistige Grundlage der künftigen Bewegung mit Freuden aufgenommen wurde.

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Nach dem mißglückten Anschlag des 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler versuchte das NS-Regime die Verschwörer als kleine verbrecherische Offiziersclique abzutun, und auch in der späteren Literatur darüber kommt häufig zum Ausdruck, hier seien Männer mit überholten Auffassungen am Werk gewesen. Der Autor dieses Beitrags war mit maßgeblichen Personen jener Gruppe bekannt, mit ihren Absichten wohlvertraut und auch als Formulierungshelfer mit am Werk. Es handelte sich um den gewerkschaftlichen Widerstandskreis in Berlin, in dem neben Graf Stauffenberg und Goerde-ler auch Jakob Kaiser und Wilhelm Leuschner verkehrten. Hauptziel dieses Kreises war die Errichtung einer gewerkschaftlichen Einheitsorganisation nach Hitler. Reichhold erinnert im folgenden an eine Artikelserie, die von diesem Kreis als geistige Grundlage der künftigen Bewegung mit Freuden aufgenommen wurde.

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Ich war im November 1938 nach Berlin gekommen, nachdem ich mir vorher Adressen dortiger Gesinnungsfreunde besorgt hatte. In meinem Gepäck führte ich eine Artikelserie der Zeitschrift „Sudentendeutsche Arbeit“ mit, die während der Sommermonate 1938 unter dem Titel „Neubau der Arbeiterbewegung“ in zwei Fortsetzungen erschienen war.

Ich hatte diese Serie, die immerhin an die 100 Druckseiten umfaßte, unmittelbar nach der Okkupation Österreichs zwischen April und September auf Einladung des Vorsitzenden der deutschen christlichen Gewerkschaften in der CSR, Hans Schütz, unter dem Pseudonym „Hans Rösler“ geschrieben.

Mein erster Besuch in Berlin galt Frau Dr. Elfriede Nebgen, deren Wohnung in der Wittelsbacherstraße - was mir allerdings erst später bewußt wurde - eines der wichtigsten Zentren des gewerkschaftlichen Widerstandskreises war. Etwa 14 Tage später traf ich hier auch mit Jakob Kaiser zusammen - eine Begegnung, welcher noch viele andere folgten.

Bemerkenswerterweise fand meine Artikelserie hier ein ungewöhnlich lebhaftes Interesse, das ich mir erst später erklären konnte, als mir bewußt wurde, daß zwischen ihren Schlußfolgerungen - diese liefen auf eine geistige Uberwindung der früheren Richtungsgewerkschaften hinaus - und dem Hauptziel des gewerkschaftlichen Widerstandskreises ein enger Zusammenhang bestand: man hatte in ihr die geistige Basis für jene gewerkschaftliche Einheitsorganisation gefunden, die nach Beseitigung des nationalsozialistischen Systems errichtet werden sollte.

Die Artikelserie ging in ihrem ersten Teil auf das bisherige geschichtliche Erbe der Arbeiterbewegung ein, setzte sich in ihrem zweiten Teil mit dem totalen Staat auseinander und zog im dritten Teil die Schlußfolgerungen aus beiden Erfahrungen. Ihr lag die Voraussetzung zugrunde, daß nach einem Sturz des Nationalsozialismus der Faden nicht wieder dort aufgenommen werden könne, wo er durch diesen abgerissen worden war.

Hier zunächst das Fazit, das aus dem historischen Erbe der Arbeiterbewegung gezogen wurde:

„Heute verfügt die Arbeiterbewegung über das, was sie 1848 noch nicht besaß - sie hat Geschichte, Tradition und Erfahrung; eigene Geschichte und Geschichte, die von ihr mitgestaltet wurde; Tradition und Werte der Tradition, die das Wort, daß der Arbeiter nichts zu verlieren habe als seine Ketten, auf die heutige Situation angewendet, zu einer Ungeheuerlichkeit verdammen. Und Erfahrung - die Erfahrung eines geschichtlichen Weges, der ein konservativer und kein revolutionärer Weg war, nämlich ein Weg, dessen Meilensteine Werke und Werte bilden: Sozialpolitik, Sozialversicherung, Arbeitsrecht, Gerechtigkeit, Verantwortung, Solidarität.“

Und weiter: „Hinter diesen Tatsachen steht mehr als nur die Annahme, daß eine Methode versagt hat, daß Marxismus sich nicht in einer Revolution, sondern in einem steten Prozeß verwirkliche und daß am Ende immer noch jener Programmpunkt zu verwirklichen wäre, der die

Vernichtung einer gewachsenen Gesellschaft verlangt Hinter diesen Tatsachen steht das eine: daß die Arbeiterschaft ein Glied der europäischen Gesellschaft ist, daß sie den Beruf hat, es zu sein und daß für sie die gleichen Gesetze und Gesetzlichkeiten gelten wie für alles, was sich in Europa als dauernd, weil als notwendig erwiesen hat...“

„Die Arbeiterschaft war eine Gemeinschaft europäischer Menschen. Und so handelte sie nach dem Gesetz, nach dem Europa angetreten ist. War es schon ein Zwang, unter dem sie stand, dann war es der Zwang von tausend Jahren europäischer Geschichte ... Sie wuchs hinein in den weiten Umkreis der europäischen Kultur und nahm teil an den Werten der Jahrhunderte, und was sie selbst an Werten schuf, wollte sie eingeordnet wissen in das Gebäude dieser Kultur.

Gesetzen unterworfen, fand unter anderen Bedingungen statt und führte sie zu anderen Zielen. Es führte sie über die Klasse hinaus, über die Totalität der Klasse, die in Wahrheit eine chinesische Mauer war, und fügte sie zu einer Gemeinschaft unter anderen Gemeinschaften - der Weg, den sie ging, war jener vom Proletariat zum Arbeiterstand.“

Ein großer Teil der europäischen Arbeiterschaft hatte diese Entwicklung bis 1933 allerdings geistig nicht mitvollzogen. Das war mit eine der Ursachen, warum es Ende der dreißiger Jahre in ganz Europa zu einer Krise der Demokratie kam. Dazu die 1938 angestellte Analyse des faschistischen Sieges über die parlamentarische Demokratie:

„Es hat schon seine tieferen Ursachen, aus denen sich das Phänomen des Faschismus und das Phänomen seiner Machtergreifung erklärt. Eine Demokratie, die von so wenigen ernst genommen wurde, mußte am Ende, nachdem das Spiel durchschaut war, dem zufallen, der sie am wenigsten ernst nahm, weil er die Chance hatte, den eigentlichen Zustand aufzudek-ken und die entsprechenden Folgerungen daraus abzuleiten.“

„Es bietet keine besonderen Schwierigkeiten, in allen diesen Gedanken, Ansprüchen, Hoffnungen und Formen (der faschistischen Systeme, d. Verf.) das marxistische Urbild und Vorbild zu erkennen. Wie, war nicht auch in der Ideologie von 1848 die Beseitigung der bürgerlichen Demokratie vorgesehen? Hat die Arbeiterbewegung, die sozialistische, je in dem gegebenen Staat eine Lösung erblickt? War es nicht vielmehr ein .Klassenstaat', ein Instrument der herrschenden Klassen? Wie, trat nicht auch der Marxismus mit dem Anspruch hervor, am Ende einer Entwicklung zu stehen und, falls diese abgelaufen sei, der Welt die letzte, endgültige, entscheidende Ordnung zu geben? ...“

„Wie, sollte nicht auch das sozialistische Gemeinwesen die letzte Lösung aller Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsprobleme bedeuten? Sollte in diesem Gemeinwesen nicht ebenfalls eine Idee, eine Partei, eine Auffassung herrschen, denn die Parteien seien doch nur der Ausdruck von .Klasseninteressen', die mit einem sozialistischen Gemeinwesen verschwinden würden? Wie, war der Lieblingsgedanke des Marxismus nicht eben jene .klassenlose Gesellschaft', die auch von den totalitären Staaten gepriesen wird? War nicht auch er ausgezogen, die Einheit zwischen Staat und Gesellschaft herzustellen, bisher unheilvoll gestört durch den Gegensatz der Klasseninteressen?“

„Sollte nicht auch durch ihn die Gesellschaft geordnet, endgültig und prinzipiell geordnet werden? Nahm sich nicht auch der Marxismus vor, das Kollektiv an die Stelle des Individuums zu setzen und ist es nicht grundsätzlich dasselbe, ob man .Gesellschaft' oder .Kollektiv sagt? Wie, sollte nicht auch hier die Wirtschaft dem Staat unterworfen werden?“

Anschließend wird die Frage gestellt, ob diese staatliche, totalitäre, in einzelnen ihrer Einrichtungen so „sozialistische“ Lösung befriedigen könne. Darauf die grundsätzliche Antwort:

„Sie befriedigt nicht. Sie läßt unbefriedigt nicht wegen dieser und jener als ungerecht empfundenen Erscheinungen, wegen äußerer Mißstände, wegen subjektiver Benachteiligungen, nein, als Ganzes, im Prinzip, im Grundsätzlichen bedeutet sie keine Lösung.“

„Totaler Staat? Totale Gesellschaft? Totale Wirtschaft? Eine Lösung? Eine letzte Lösung? Uberhaupt eine Lösung? Es scheint keine Lösung zu sein, keine Lösung für den

Menschen, der den Anspruch nicht veräußern kann, als Subjekt, als Person gewertet zu werden; keine Lösung für die soziale Gruppe, die ihr Mitbestimmungsrecht nicht preiszugeben gewillt ist, wo es um ihre eigenen Angelegenheiten geht; keine Lösung für den Stand, der sich als Teil des Volkes, des Ganzen, der Nation berufen und verpflichtet fühlt, aus freier, eigener Verantwortung und schöpferischer Initiative am eigenen und am Geschick des Ganzen ... teilzunehmen.“

Diese Charakterisierung des totalen Staates und der Einwände gegen ihn ist in einzelnen Originalsätzen auch in den Aufruf aufgenommen worden, der von der neuen Regierung nach einem erfolgreichen Ablauf der „Aktion Walküre“ - so lautete das Codewort für den Putsch des 20. Juli - erlassen werden sollte. Der totale Staat wird hier als jene Erfahrung gezeigt, die von der Arbeiterschaft gemacht werden mußte, um sich von den totalitären Elementen ihres eigenen Denkens zu befreien oder besser der ihr empfohlenen Ideologie.

Der zweite Teil der Artikelserie mündet schließlich in eine Reihe von Fragestellungen, in denen diese

Erfahrung zusammengefaßt ist und aus der für die Zukunft der Arbeiterbewegung die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden müßten. Zum Schluß heißt es daher:

„Die Frage der Arbeiterbewegung ist neu gestellt. Von der Vergangenheit her, über die Gegenwart hin: für die Zukunft. Doch scheint es, daß es auf diese Frage ohnedies nur eine Antwort gibt, die wir nunmehr formulieren müssen: Die europäische Gestalt der Arbeiterbewegung.“

Diese war Gegenstand des dritten Teiles, dessen Veröffentlichung dann dem Anschluß des Sudetenlandes an das Dritte Reich im September 1938 zum Opfer fiel. Die Schlußfolgerungen, die in diesem übrigens unvollendeten Teil gezogen wurden, sind rasch aufgezählt:

In gesamtstaatlicher Hinsicht ging es um eine neue Auffassung der Demokratie, nämlich um ihre Auffassung als politische Lebensform einer freien Gesellschaft und damit für die Arbeiterbewegung um die Uberwindung der Einstellung, die Demokratie nur als Boden des Klassenkampfes zu sehen. Damit änderte sich auch in grundlegender Weise die gesellschaftspolitische Perspektive, da es nun nicht mehr um die Überwindung der Mehrklassengesellschaft, sondern um die geistige Eingliederung der Arbeitnehmer in diese Gesellschaft ging, die Gewerkschaftsbewegung mußte somit als integrierender Bestandteil der pluralistischen Gesellschaft gesehen werden.

Stellt man heute die Frage, was von diesen Auffassungen nach dem Ende des Nationalsozialismus geschichtliche Wirklichkeit geworden ist, dann fallt die Antwort zumindest für den Zeitraum von 1945 bis 1960 verhältnismäßig positiv aus. Fürs erste kam es in Österreich und Deutschland tatsächlich zur Errichtung einer gewerkschaftlichen Einheitsorganisation (die Verbindung zu Österreich lief hier von Kaiser zu Lois Weinberger und von Wilhelm Leuschner zu Adolf Schärf), die in der Folge auf die soziale und erstmals auch auf die wirtschaftliche Entwicklung einen maßgebenden Einfluß gewonnen hat.

Weiters ist hinsichtlich der Auffassung der Demokratie ein wesentlicher Wandel eingetreten, der zwar nicht in Österreich, wohl aber in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien auch einen verfassungsmäßigen Niederschlag gefunden hat.

Ferner konnten Einrichtungen wie die österreichische Sozialpartnerschaft zumindest bis vor kurzem als Ausdruck eines Bekenntnisses auch der Gewerkschaften zur pluralistischen Gesellschaft bezeichnet werden. Und schließlich kann heute nicht mehr so wie in der Vergangenheit von einer Abwertung der Sozialpolitik zugunsten einer absoluten Zukunft etwa in Form der „klassenlosen Gesellschaft“ gesprochen werden.

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