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Das belgische Beispiel

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Die katholische Arbeiterbewegung Belgiens hat die Organisationsform, die sie 1921 gewählt und bis heute festgehalten hat, nicht leichthin gefunden. Die Prinzipien, "die 1921 angenommen und zur Grundlage des Handelns gemacht wurden, drängten sich als natürliches Ergebnis der Analyse des Arbeiterproblems auf. Aber es bedurfte erst einer Reihe von Erfahrungen, um sie voll zu verstehen. Die Erkenntnis aus den Lehren dieser Geschichte kann auch anderen nützlich sein.

Belgien hatte bis 1921 verschiedene soziale Einrichtungen und Organisationen, die, auf sich allein gestellt, nicht zu den erwünschten Erfolgen kamen. Genannt seien die Krankenkassen, Gewerkschaften, Konsumvereine und Studienzirkel für Arbeiter, im Schoße der christlich-sozialen (katholischen) Partei auch hervorragende Vertreter des christlich sozialen Gedankens. Letztere waren bürgerliche Demokraten, die der „Ligue democratique Beige“ angehörten.

Alle Initiative, die von den angeführten Kräften ausging, fand in der Arbeiterschaft nicht den Widerhall, nicht den Erfolg, den man erhofft hatte. Eine immer größer werdende Zahl von Arbeitern verlor das Vertrauen und begann sich den Sozialisten zuzuwenden. Am deutlichsten sichtbar wurde das Mißverhältnis 1920, als die sozialistischen Gewerkschaften 718.000 Mitglieder zählten und die christlichen Gewerkschaften, durch den Verlust der Hälfte ihrer Mitglieder, auf 65.000 zusammengeschmolzen waren.

Was w'ar der Grund des Zunehmens der Sozialisten? Die katholischen sozialen Organisationen trugen nicht den Charakter einer reinen Arbeiterorganisation, was nötig gewesen wäre, um das Vertrauen der Arbeiter zu gewinnen. Man sah in den Gewerkschaften Werkzeuge des Kampfes und des Widerstandes. Dazu kam noch ein grober psychologischer Irrtum: Man machte soziale Aktion für die Arbeiter in einer Sphäre bürgerlicher und klerikaler Bevormundung, es waren gutgesinnte Männer am Werk, aber sie waren fremd in der Arbeiterklasse. Den Arbeitern zeigte sich ein Bild, wonach die Arbeiter bei den Sozialisten unter sich waren, ohne bürgerliche Bremsen, ohne Bevormundung.

Des weiteren fehlte den katholischen sozialen Organisationen ein positives fortschrittliches Programm. Sie waren aus einem Verteidigungsreflex gegründet, sie waren antisozialistisch, das konnte natürlich kein Programm sein. Der Widerstand gegen das Antireligiöse war stärker als der Wille zur sozialen Reform!

Auch waren die katholischen sozialen Organisationen zu schwach, um den Arbeitern Vertrauen zu geben. Es war keine organische Verbindung untereinander vorhanden. Die Folgerungen daraus waren eindeutig. Man brauchte eine reine Arbeiterorganisation, ein Programm von praktischen Zielen und Forderungen fortschrittlicher Art, und es mußte durch Koordination eine Zusammenfassung aller Kräfte zu einer machtvollen Gesamtbewegung vollzogen werden, die der linken Seite Achtung einflößen konnte.

Dies geschah im Jahre 1921. Von dieser Zeit an erfolgte eine Entfaltung und ein Aufstieg der katholischen Arbeiterbewegung in allen ihren Teilen und damit verbunden war der entscheidende Rückgang der sozialistischen Arbeiterbewegung, deren zahlenmäßige Stärke heute knapp hinter den Katholiken rangiert.

Man kann die Struktur der katholischen Arbeiterbewegung Belgiens nicht verständlich machen, ohne die Auffassung des Arbeiterproblems aufzuzeigen, die dieser Bewegung zugrunde liegt.

Das Arbeiterproblem, im wirtschaftlich sozialen Blickfeld gesehen, ist die Frage der Organisierung gegenüber einem sozial wenig aufgeschlossenen Arbeitgebertum. Es umfaßt, besonders in unserer Zeit, die strukturelle Umformung eines ökonomischen Systems, das die Kirche als ungerecht bezeichnet hat und das auch Quadragesimo anno anprangert.

Unter psychologischen, menschlichen und christlichen Blickpunkten betrachtet, ist es das Problem des Arbeiters, der das Recht hat, ein menschenwürdiges christliches Leben zu führen, und der sich von Bedingungen umgeben sieht, die ihm ohne Hilfe geistig-sittlicher Stützen dieses fast unmöglich machen. Denken wir an die Faktoren der Entpersönlichung, das Milieu der Masse, die Zerrissenheit der Familie durch weitabliegende Arbeitsplätze.

Eine dreifache Idee bestimmt die Struktur der belgischen katholischen Arbeiterbewegung: die Totalität, die Mannigfaltigkeit und die Einheit. Sie umfaßt den ganzen Menschen, nicht nur den Gewerkschafter, den Wähler, den Ehemann und Vater, wie auch das Leben eine Einheit, eine Totalität ist. Die Mannigfaltigkeit ist Voraussetzung für die Arbeit in den verschiedenen Gebieten des öffentlichen Lebens, also Politik, Gewerkschaft, wirtschaftliche Einrichtungen (Konsumvereine, Sparkassen, Volksversicherung usw.) auf der einen Seite, anderseits in den Bereichen der Bildung und des Apostolates.

Alle diese organisierten Formationen müssen aber auseinandergehalten und können nicht direkt von einer Zentrale geleitet werden. Dafür sind die Aufgaben zu verschieden und erfordern besondere Sachkenntnis und spezifische Ausrichtung, die eine Autonomie bedingen. Dennoch dürfen diese Organisationen nicht isoliert betrachtet werd««, ohne die notwendige organische Verbindung, weil sie sich mit ihren Anliegen und in ihren Aufgaben doch immer wieder an dieselben Arbeiter wenden.

Die nachfolgenden Zahlen gewähren einen Einblick in die verschiedenen Sektoren der belgischen Arbeiterbewegung und lassen deutlich die Erfolge seit 1921 erkennen:

Die sozialen Enzykliken der Kirche haben stets darauf hingewiesen, daß wirtschaftliche Reform allein nicht genügt, um die soziale Frage zu lösen. Ohne die Grundlage christlicher Denk- und Handlungsweisen wird keine echte und dauernde Lösung zustande kommen können. Anderseits aber müssen alle wirtschaftlich-sozialen Bestrebungen darauf gerichtet sein, eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu erreichen, die dem Menschen dienstbar ist. Belgien hat diese schwere

Aufgabe der Durchdringung der Arbeiterschaft mit christlichem Gedankengut mit viel Elan und Hingabe schon soweit gelöst, daß ein gleiches Kräfteverhältnis erreicht werden konnte, wenngleich es noch eine große Zahl von Arbeitern gibt, die von der Soziallehre der Kirche keine oder nur eine sehr unbestimmte Vorstellung haben.

Die drei Sektoren der belgischen Arbeiterbewegung, Gewerkschaft, Politik und konfessionell-erzieherische Bewegung, betrachten einander nicht als Konkurrenzunternehmen, sie bleiben selbständige Formationen in ihrer Arbeit, die einander bewußt ergänzen und bewußt gemeinsam die belgische Arbeiterbewegung darstellen. Sie helfen einander und gewinnen voneinander in ihrem Kampf um die Aufrichtung einer christlichen Gesell- schafts- und Sozialordnung.

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