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Dreimal SPÖ

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Dem Sozialismus gelingt es nicht, ich in Idee und Parteipraxis an die sozialökonomischen Wirklichkeiten anzupassen. Das gilt auch für die SPÖ. Die Nichtbeachtung der sozialökonomischen Strukturwandlungen führt die SPÖ in jenes Dilemma, das sich als eine offenkundige Desintegration der Partei ausweist. Die SPÖ hat übersehen, daß die Zahl der Arbeiter innerhalb der Arbeitsgesellschaft relativ zurückgeht (Verbeamtung). In Wien hat ich beispielsweise die Zahl der Angestellten zwischen 1955 und 1961 um 32 Prozent erhöht. Die Gesamtbeschäftigung ist dagegen im Vergleichs-7eitraum nur um 14 Prozent gestiegen. Der unterproportionale Zuwachs an Arbeitern führt dazu, daß gerade jene soziale Großgruppe, die gleichsam aus ihrer Natur heraus für den Sozialismus disponiert ist, relativ schwächer wird. In einem ausgezeichneten Zustandsbe-richt über die SPÖ hat Günter N e n-n i n g („Zukunft“, Nr. 7, 8, 9 und 10/ 1962) darauf hingewiesen, daß die Sozialisten von der fortschreitenden Industrialisierung kein automatisches Wachsen der ihnen verfügbaren Wählerfonds erwarten dürfen. Bleibt die Partei in ihrem Habitus auf eine Klassenpartei fixiert, kann sie das gleiche Schicksal erleiden wie die allerorts in Liquidation befindlichen Bauernpar-, teien. Daher fordert Nenning eine Öffnung der Partei u. a. durch Aufnahme von „unabhängigen“, aber der SPÖ nahestehenden Persönlichkeiten auf die Kandidatenlisten.

Die Arbeitsgesellschaft (für Marx d i e Gesellschaft schlechthin) hat in der Konsumgesellschaft eine zumindest gleichgewichtige Entsprechung gefunden. In der Gegenwart geht es der Arbeiterschaft keineswegs mehr um Überleben allein, sondern auch um eine Konsummaximierung in einer nunmehr bereits reichlich gebotenen Freizeit. Die ehedem relative Un-empfindlichkeit der Arbeiterschaft gegenüber Preisbewegungen besteht nicht mehr. Nicht selten werden Konsumchancen gegen Lohnerhöhungen eingetauscht („Freizeitkauf“); Preissteigerungen werden daher auch von der Arbeiterschaft mit wenig Vergnügen registriert, auch dann, wenn sie durch selbst erzwungene Lohnerhöhungen herbeigeführt wurden. Es scheint dabei manchem Arbeiter, daß auch die SPÖ zu den indirekten „Preistreibern“ gehört.

Der Arbeiter will vielfach nicht mehr „Arbeiter“ sein. Die mythische Qualifikation des Arbeiterstatus ist im Schwinden. Eindeutig bei den jungen Arbeitern, die bestenfalls in Grenzsituationen ein Bekenntnis zur „Arbeiterklasse“ ablegen. Das Beiwort „Arbeiterpartei“ hat den Charakter einer „abgeleiteten Firma“ und wirkt auch bei den Arbeitern, in Erinnerung an eine andere „Arbeiterpartei“, keineswegs mehr so attraktiv wie in der Ersten Republik.

Wohl gibt es unverkennbare Anpassungsbemühungen der SPÖ. Der Wahlaufruf 1962 weist in seiner bemerkenswerten Unverbindlichkeit darauf hin, daß sich die Partei als eine Allklassenpartei anzubieten wünscht. Welche gesellschaftliche Großgruppe vermag durch einen Forderungskatalog, der von „Freiheit“, „Frieden“, „Sozialer Gerechtigkeit“ und „Fortschritt“ spricht, nicht angesprochen zu werden? Die Anpassung wird aber nur als eine verbale verstanden Die Parteipraxis läßt noch nicht vermuten, daß die SPÖ den „Unterbau“, die sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeiten, in konforme Maßnahmen übersetzt.

Die ÖVP ist eine Eidgenossenschaft von Bünden, eine Interessentenkooperation. Es hat daher nie die ÖVP gegeben, sondern lediglich eine Art von „Betriebsgesellschaft“ dreier Parteien, die sich eben ÖVP nannte.

Es gibt auch nicht mehr d i e SPÖ. Die Sozialdemokraten der Ersten Republik waren eine homogene Partei. Die Sozialisten der Zweiten Republik vermochten von allem Anfang an nicht einmal formell die Einheitlichkeit der Partei zu betonen, wenn auch die zwei neuen „Bünde“, die „Arbeitsbauern“ und die „kleinen“ Selbständigen, stets nur unter Führung der „Arbeiterklasse“ ihre Geschäfte verrichten durften. Die „Bünde“ der SPÖ sind aber anderer Natur als jene der ÖVP. Soweit eine vereinfachende Feststellung möglich ist, kann man bei der SPÖ unterscheiden:

• Einen liberalen, faktisch linksbürgerlichen Flügel, wenn auch das Wort „bürgerlich“ weitgehend vermieden wird- Der „Bürger“ ist noch immer die Personifikation des sozialen Sündenfalls in der Epoche des Kapitalismus. Angehörige des linksbürgerlichen Flügels der SPÖ sind im allgemeinen die Politmanager, denen Politik Beruf ist, und die Technokraten der National- und Kommunalindustrie. Dieser Gruppe entspricht die Forderung des Wahlaufrufes, daß Begabung und Leistung gesellschaftskonstitutive Merkmal sein sollen. Soziale Gerechtigkeit und Entproletarisierung sind der Gruppe der Nationalindustriellen Fremdworte.

Wenn auch als Folge einer partei-offiziellen Sprachregelung die Angehörigen der bürgerlichen Gruppe ihren eigenen sozialen Status wortreich überdecken, sind sie in den Augen des Parteivolkes sozial „korrumpiert“. In dem nun einmal natürlichen Gegensatz von Kapital und Arbeit repräsentieren die sozialistisch etikettierten Bürgerlichen das „Kapital“ und tun dies in gleicher Weise wie die bösen Kapitalisten.

Der linksliberalen Gruppe entspricht das Novum einer sozialistischen Boulevardpresse. Der indirekte Sozialismus, „Expressis verbis“ dargeboten, spricht jedoch nur Primitivschichten an, Personen, die so lange dem Sozialismus zugeneigt sind, als er eben nicht Sozialismus ist.

• Die zweite Gruppe in der SPÖ, personell schwach besetzt, publizistisch aber ungemein rührig, sind die „Altgläubigen“, die Alt-Marxisten, die in einer durch nichts zu mildernden Opposition zur Gesellschaft an sich stehen. In einer beachtlichen Wortfrömmigkeit wird für jede gesellschaftliche Entwicklungsphase die komforme Prognose aus den Schriften des „Meisters“ herausgelesen. Die sozialen Forderungen werden nicht, wie bei den Liberalen, als ein einkommensstabilt-sierendes Gesellschaftsspiel angesehen, sondern als Versuch, die ohnedies „naturgesetzliche“ Liquidation eines Kapitalismus, den es freilich in der vorgestellten Form nicht mehr gibt, zu beschleunigen. Die in der Zielgeraden befindlichen Politmanager und Technokraten, unverkennbar eine „Ausbeuterklasse“, werden geflissentlich übersehen, ein Grund, die Wahrhaftigkeit der marxistischen Prognosen mit Recht anzuzweifeln.

Die Bedachtnahme auf 'den konkreten einzelnen Menschen fehlt. Wie im Kommunismus. „Freiheit“ wird zu einer abstrakten Chance, der die Menschen nur gestuft teilhaft werden können.

Ihrer Natur nach sind die Marxisten gewerkschaftsfeindlich, ebenso wie ihnen die liberalen Elemente in der Partei geeignet erscheinen, den Sozialismus als unernst zu deklarieren. Eindeutig sind jedoch die Gewerkschaften ein Element der Unruhe im Marxismus, weil sie den Kapitalismus disziplinieren und dadurch seine Liquidation behindern. • Der Gewerkschaftsflügel ist mehr denn je der Kern der Partei. Wohl förmlich sozialistisch, aber zuerst, weil pragmatisch denkend, auf reale soziale Neuordnung bedacht, sind die Gewerkschafter nicht gewillt, aus der SPÖ wieder eine Art Glaubenspartei entstehen zu lassen, die organisatorische Hülle einer zweiten Religiosität. Das Bemühen so mancher „Altglauber“, auch die SPÖ zu einer Gegenkirche zu machen, fand jedenfalls keine Billigung bei den sozialistischen Gewerkschaftern, um so mehr, als man in der Gewerkschaftsführung nicht einzusehen vermag, was ein Atheismus mit der Sozialreform zu tun haben soll.

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