6568793-1950_10_01.jpg
Digital In Arbeit

Nach den Wahlen — vor der Entscheidung

Werbung
Werbung
Werbung

Als England vor fünf Jahren, unmittelbar nach Kriegsende, zur Neuwahl seines Parlaments schritt, waren es verheißungsvolle Entwürfe für die Zukunft, mit denen sich die beiden großen Parteien an die Wählerschaft wandten. Man hatte ja in der nationalen Koalition der Kriegszeit die politische Verantwortung gemeinsam getragen und damit war dem Lob der eigenen Leistungen wie der Kritik, die man an den Unzulänglichkeiten und Fehlern des Partners während der abgelaufenen Legislaturperiode üben konnte, praktisch eine gewisse Grenze gesetzt. Jetzt, in der Wahlkampagne, die am 23. Februar ihren Abschluß fand, lagen die Dinge anders. Seit 1945 ruhte die Verantwortung für das Schicksal des Landes allein bei einer Partei, und die gewaltige Mehrheit, über die diese Partei im Parlament verfügte, hatte ihr die Möglichkeit gegeben, bei der Verwirklichung ihrer Pläne ohne jede Rücksicht auf die parlamentarische Opposition vorzugehen. Von dieser Möglichkeit hatte sie auch vollsten Gebrauch gemacht, unbeschadet der Tatsache, daß ihr das .Mandat der Nation“, auf das sie sich immer wieder berief, nur von knapp einem Drittel der im Jahre 1945 Wahlberechtigten zugesprochen war. Die Frage, die der Wählerschaft am 23. Februar zur Entscheidung vorzulegen war, mußte daher lauten: Hat Labour sich als alleinige Trägerin der Regierungsgewalt bewährt und verdient sie somit eine Erneuerung ihres Mandats oder nicht?

Diese Entscheidung liegt nun vor. Von einem Mandat der Nation für die Fortführung der bisherigen Labourpolitik kann keine Rede mehr sein. Zwar ging Labour dank der unbeabsichtigten Schützenhilfe, die ihr die Liberalen in erstaunlicher Verkennung der' Gesamtlage und ihrer eigenen Gewinnchancen geleistet hatten, nochmals als stärkste Partei aus dem Wahlkampf hervor, aber ihre frühere absolute Mehrheit von 189 Mandaten ist auf weniger als ein Dutzend zusammengeschmolzen, indes die Wählerschaft der Konservativen um rund vier Millionen, das sind etwa 50 Prozent der früheren Zahl, zugenommen hat und im neuen Parlament mit mindestens 294 Abgeordneten, gegen 189 wie bisher, vertreten sein wird. Aber noch bedeutsamer als der Hinweis auf die Meinung und politische Einstellung des englischen Volkes ist die Entschlossenheit, man möchte sagen die kühle Verachtung, mit der die Wähler in allen Teilen des Landes den Kandidaten der Kommunisten und ihrer Bundesgenossen, der Unabhängigen Sozialisten, die Türe gewiesen haben. Das englische Volk will von der marxistischen Ideologie nichts wissen, und diese neuerdings so klar bewiesene Tatsache wird auf die weiteren Pläne der Labourführung kaum ohne Einfluß bleiben können.

In ihren Anfängen war die englische Arbeiterbewegung durchaus frei von jenen Theorien, die den kontinentalen Sozialismus geformt hatten. Auf humanitärer und christlicher Grundlage entstanden, unter starker Beteiligung namentlich der nonkonformistischen Sekten, sah sie ihren Zweck darin, der Arbeiterklasse zu wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg zu verhelfen. Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, nicht Klassenkampf und Umsturz der bestehenden Ordnung, blieb ihre Devise auch dann noch, als sie sich zu einer eigenen politischen Partei entwickelt hatte; eine Entwicklung übrigens, die hauptsächlich auf das Versagen der Liberalen als Vertreter der Arbeiterinteressen zurückzuführen war. Erst in den Zwischenkriegsjahren, als an manchen englischen Hochschulen Karl Marx modern geworden war und eine neue Intelligenzschichte heranwuchs, die sich an der London School of Economics mehr mit Marx' „Kapital“ als mit den Schriften Sydney Webbs beschäftigt hatte, verschob sich das Bild. Fast zur selben Zeit, als sich in manchen sozialdemokratischen Parteien des Kontinents eine Abkehr von doktrinärer Halsstarrigkeit und eine größere Bereitschaft zu realistischem Denken abzuzeichnen begann, trat in England die gegenteilige Tendenz in Erscheinung.

Immer mehr machte sich in der Führung der Labour Party der Einfluß von Männern geltend, denen als Endziel der sozialistische Staat vorschwebt, aber nicht in einer gemilderten, toleranten, dem englischen Charakter angepaßten Form, sondern in einer Prägung, die den Forderungen der marxistischen Orthodoxie entspricht: mit der Einschränkung nur, daß dieses Ziel im Wesen durch ökonomische Maßnahmen und ohne offene Gewaltanwendung erreicht und behauptet werden sollte. Es war kein Glück für England und die mit ihm verbundene Welt, daß bei der Erstellung des Programms, welches der Labourregierung in diesen Jahren als Richtschnur diente, es häufiger die Postulate jener Ideologen waren, die Berücksichtigung fanden, als die klaren Erfordernisse des praktischen Lebens und des Gemeinwohls der Nation. So konnte es geschehen, daß das angenommene Prinzip der Verstaatlichung privater Industrien oder ganzer Erwerbszweige, welches, nach rein sachlichen Gesichtspunkten gehandhabt, gewiß zu rechtfertigen war, tatsächlich zum Instru-, ment einer Politik geworden ist, die direkt oder indirekt jeden individuellen Unternehmungsgeist und selbst die Ersparnisse des kleinen Mannes bedroht und bereits heute einen nicht unerheblichen Faktor in den wirtschaftlichen Nöten Englands darstellt. Und so kam es auch, daß Labour sich zu einem dem englischen Wesen durchaus fremden System immer mehr umfassender, zentraler Reglementierung entschloß, das letzten Endes selbst die fundamentalsten Rechtssphären gefährden müßte. Hiefür ist das andeutungsweise auch von verantwortlichen Sprechern der Labour Party bereits gestellte Verlangen nach Einschrän-kun,g der. Pressefreiheit eip bedeyp-kjches

Symptom. Das neue Schulgesetz, welches tief in die Elternrechte eingreift und namentlich den katholischen Bevölkerungsteil schwer benachteiligt, ist sogar mehr als ein Symptom.

Wir wissen nicht, welche Schlüsse die Labourführung aus den Ergebnissen des 23. Februar ziehen wird. Deutet sie die erlittene Schlappe richtig und überwiegt in ihrem Rate der Einfluß jener, die sich der besten Traditionen der englischen Arbeiterbewegung bewußt sind, dann könnte es sein, daß der letzte Wahlkampf der Auftakt war nicht zu einer Verschärfung, sondern zu einer allmähli-gen Milderung der Gegensätze zwischen den beiden großen Parteien des Landes. Sollte es dazu kommen, dann allerdings hätte das gesamte englische Volk, ob in dem einen oder anderen Lager stehend, allen Grund, den 23. Februar als den Tag eines gemeinsamen Sieges über eine gemeinsame Gefahr zu feiern. Im anderen Falle könnte ein Sieg des .doktrinären Flügels“ der Labour Party unabsehbare innen- und außenpolitische Spannungen nach sich ziehen,.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung