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Von Bevan zu Cousins

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Noch am Parteitag der Labour Party im Jahre 1954 in Scarborough trat der große Volkstribun Aneurin Bevan als unbestrittener Führer der linken Kräfte in der Labour Party auf. Damals führte er seine Getreuen gegen die Gefahr der deutschen Wiederaufrüstung ins Gefecht und wäre um Haaresbreite als Sieger aus diesem Kampf hervorgegangen, der wie kaum ein zweiter im letzten Jahrzehnt der englischen Politik die Gemüter erhitzt hatte. Vier Jahre später trat Bevan wieder in dem beliebten Badeort Nord-englands aus Anlaß des Jahreskongresses auf die Seite Gaitskells und verteidigte dessen Atompolitik gegen seine schmerzlich enttäuschten Freunde und ehemaligen Anhänger. Die Gerüchte sind nicht verstummt, daß Bevan nur deshalb für die Gaitskell-Politik des Festhaltens an einem britischen atomaren Verteidigungsbeitrag eintrat, weil er davor zurückschreckte, die Einheit der Partei aufs Spiel zu setzen, die durch seine Entscheidung für die an Pazifismus grenzende Position der Linken zweifellos eingetreten wäre. Wenn Bevan damals tatsächlich seine Überzeugung der politischen und wahltaktischen Opportunität aufgeopfert haben sollte, so war dieses Opfer, wie der Ausgang der letzten Wahlen vor Augen geführt hat, vergeblich gebracht worden. Aber durch seine damalige Stellungnahme verlor Bevan das politische Vertrauen, wenn auch nicht die seiner Person in so reichem Maße zuteil gewordene private Zuneigung der Kämpen des linken Flügels. Er wäre heute als Führer der Linken selbst dann aktionsunfähig, wenn ihn nicht ein grausames Schicksal jäh aus dem Kreis der Lebenden gerissen hätte.

Neue Männer und Ideen haben sich in den letzten Jahren und besonders seit der Wahlniederlage des vergangenen Herbstes in den Vordergrund geschoben. In dem fast ohne jede Rücksicht auf die Öffentlichkeit und den Pre-stigeverlust der Gesamtpartei geführten Kampf, der von den linken Kräften in der Labour Party ngegen Gaitskell und seine als kompromißfreudig denunzierte Politik organisiert wird, übertönen zwei Stimmen alle anderen aus dem Chor der Unzufriedenen: Frank Cousins und R. H. Crossman. Frank Cousins ist Generalsekretär der mächtigen Transportarbeitergewerkschaft, die als erste die Tradition des unverbrüchlichen Stehens der Trade Unions zur Parteiführung und zu jeder gemäßigten Politik durchbrach und unter Cousins Führung ihr Gewicht in die Waagschale der Abrüstungspolitik warf. Cousins hat mit seiner vor einem Jahr gestarteten Aktion einen Stein ins Rollen gebracht, der der jetzigen Parteiführung ungeheuer gefährlich werden und die Labour Party bei der im Herbst stattfindenden Parteikonferenz auf eine Zerreißprobe stellen kann. Und wenn es auch diesmal gelingen sollte, das Äußerste abzuwenden, so ist doch nicht abzusehen, wann und wie die Labour Party zur Ruhe und zu einem inneren Frieden kommen soll. Cousins, der noch am ersten Mai des vergangenen Jahres friedlich mit Gaitskell auf einer Tribüne im Hyde Park stand, um die spärlichen Demonstranten zu begrüßen, hat dem Parteiführer nun vor aller Öffentlichkeit den Fehdehandschuh hingeworfen.

Der zweite prominente Politiker, der Gaitskells Führerrolle in Frage gestellt und die gegenwärtige Politik der Labour Party in einem unlängst veröffentlichten Pamphlet einer vernichtenden Kritik unterzogen hat, ist der brillante Intellektuelle R. H. Crossman, bis vor kurzer Zeit Mitglied des „Schattenkabinetts“ der Labour Party und wie einst Bevan aus Protest gegen die Politik der Partei aus ihr ausgeschieden. Crossman hält nicht nur die Atompolitik der Partei, zu deren Neuformulierung durch den Parteivorstand er mit seiner Kritik wesentlich beigetragen hat, und die Revision der berühmten „Clause 4“ des Parteiprogramms über Nationalisierung für falsch, er will überhaupt von einer nach der Gewinnung der Macht im Staate schielenden Taktik abgehen und aus der Labour Party eine ohne Rücksicht auf Verluste ihren Grundsätzen treue Kraft machen, die ein politisches Abseitsstehen für die nächsten Jahre, ja Jahrzehnte in Kauf nimmt, um dafür — man höre und staune! — die Zukunft in dem Zeitpunkt erobern zu können, wenn der enorme wirtschaftliche Fortschritt der Sowjetunion einer allgemeinen Verbreitung sozialistischer Gesellschaftsformen den Weg gebahnt haben wird.

Die heißumkämpften Fragen der Stellung zur Atomrüstung und die Frage des Bekenntnisses zur Nationalisierung aller Produktionsmittel sind zu Schibboleths zwischen Links und Rechts geworden. Die Linke ist mit Gradunterschieden für eine Loslösung Englands von der NATO-Bindung und gegen jeden britischen Beitrag zur atomaren westlichen Verteidigung. In der Regel sind die Verfechter dieser außenpolitischen Orientierung auch entschiedene Befürworter der alten sozialistischen Forderung nach totaler oder doch noch weitestgehender Nationalisierung, aber die Fronten decken sich nicht ganz. Das Schwergewicht liegt eher auf der Atomfrage, die in den Augen der Anhänger der Politik einseitiger Abrüstung durch die Initiative Englands eine schicksalwendende Macht für das Land und vie^ejc^j auch, für,,, die Menschheit entwickeln könnte.

Zu den alten pazifistischen Kräften, die in -er Labour Party eine stets vertretene, aber sektenhafte Minorität bildeten, stoßen durchaus rational orientierte Realpolitiker wie Crossman, ja auch viele Katholiken sehen die zur Verteidigung aller Kriege der Vergangenheit herangezogene bellum-iustum-Lehre angesichts der Übel und Dimensionen eines Atomkrieges ihrer legitimierenden Kraft beraubt und schließen sich dem Verlangen der Linken nach Verzicht auf die britische Atomrüstung an.

Wenn man nach der geistigen Herkunft der Sprecher der Linken fragt und einen vergleichenden Rückblick in die nicht mehr als fünfzigjährige Vergangenheit der Labour Party tut, so muß man als Christ die unleugbare Tatsache bedauern, daß das religiöse aktive und christlich inspirierte Element in der Führungsgarnitur der Partei einen starken Rückgang erlitten hat, der keineswegs einem Gewichtsverlust in der Masse der Intellektuellen oder auch nur des 'olkes entspricht. Standen mit Lansbury und Attlee noch christlich gesinnte Männer an der Spitze, so ist unter Gaitskell und Bevan der Indifferentismus und der Agnostizismus zur intellektuell vorherrschenden Kraft geworden. Daran vermag auch das Wirken hervorragender christlicher Einzelpersönlichkeiten, wie des anglikanischen Laientheologen und Publizisten Tom Driberg, der sogar Vorsitzender des National Executive Committee der Labour Party war, nichts zu ändern. Hinter dieser für die Führungselite kennzeichnenden Akzentverschiebung steht keineswegs irgendeine Regie oder Absicht, denn in England kommt niemand auf die Idee, politische und religiöse Überzeugungen zu identifizieren und das Fehlen kulturpolitischer Auseinandersetzungsstoffe ließ es kaum je zu einer politischen Dimension des Religiösen kommen; vielmehr muß man der mangelnden Aktivität der intellektuellen Christen die Schuld geben, die die geistige Prägefähigkeit und Kampffreudigkeit verloren zu haben scheinen. Viel besser sieht es aus, wenn man die Masse der weniger im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehenden politischen Exponenten ansieht. Von den etwa 260 britischen Labour-Parlamentsabgeordneten gehört etwa ein Viertel einer christlichen Fraktionsgruppe, der Parliamentary Socialist Christian Group, an, die alljährlich zur Eröff-inuriglrael)ParreiköngTH*s&Fö#en Gotte'stlieSWltf““ einer anglikanischen oder nonkonformistischen Kiren9 HHM9täfttt.f'-b <W M¥ •mnrwfoM .iQ

Was die britische Linke, abgesehen von ihrer aktuell-politischen Bedeutung für das religiöse Verständnis so interessant macht, ist der in ihren Reihen, wenn auch unter säkularen Vorzeichen stehende Gedanke der Verwirklichung des vollkommenen Zusatndes auf Erden. Denn wäre eine Welt des Friedens und der Ausschaltung privater Willkür, der die Linke durch eine totale Vergesellschaftung näherzukommen glaubt, nicht bereits das Reich Gottes auf Erden? Keir Hardie, der Gründer und Prophet der Labour Party, der den Loslösungsprozeß der im Banne des Liberalismus stehenden, auf Tagesziele beschränkten britischen Arbeiter und ihre Organisierung als selbständige politische Kraft in Gang setzte, hat gleich vielen seiner Zeitgenossen und Mitkämpfer die inbrünstige Forderung erhoben: „The Kingdom of God on earth.“ Dieser Reichsgedanke, dieser Glaube an die Friedlichkeit und Brüderlichkeit des Menschen, ist für die christlichen wie für die säkularistischen Nachfahren dieser Tradition bezeichnend geblieben. Aber bei aller Hochschätzung der Menschen selbst, die ihre Kräfte der Agitation dieser Ideen weihen, erhebt sich die über die spezielle Situation Englands hinausgehende, ins Philosophische und Theologische übergreifende, in diesem Zusammenhang aber doch unvermeidliche Frage: Gehen die nach einer vollkommenen Gesellschaft als Reich Gottes auf Erden Strebenden nicht von einem falschen Menschenbild, von einem Optimismus aus, dessen christliche Wurzel im Pela-gianismus zu suchen ist?

George Lansbury, der Führer der Labour Party nach dem Abfall Macdonalds, der 1935 wegen seiner pazifistischen Haltung zurücktrat, hat-nach einem, noch vor der Entfesselung des zweiten Weltkrieges erfolgten Besuch bei Hitler, diesen im wesentlichen als einen eigenwilligen Mann bezeichnet, an dem einem manches mißfallen könne, der aber wegen seiner vegetarischen und alkoholfeindlichen Tendenzen sympathisch wirke und dem daher wohl auch nicht soviel Schlimmes zuzutrauen sei. In dieser erschütternden Naivität eines großen, guten, hinreißend ehrlichen Mannes steckt der Geist des fanatischen Glaubens an das Gute und Vernünftige, der bis heute die Linke ehrt, der aber eine Portion gesunde Skepsis, gegenüber ihren Parolen und Ansprüchen selbst dann notwendig macht, wenn man in mancher Einzelforderung ihr Verständnis nicht versagen kann.

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