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Englands Krise kommt bestimmt

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Ein Wahlkampf in höchst unenglischer schwüler Hitze. Ein Wahlkampf neben dem Fußball-Worldcup. Ein Wahlkampf ohne Plakate und Zeitungen. Aber den Mister Smith in Birmingham, Yorkshire oder im Londoner Arbeitervorort Camden Town beschäftigte in diesem Juni 1970 der nahende Urlaub, das Abschneiden des englischen Teams in Mexiko und das Cricket-Programm in seiner Tageszeitung mehr als der Kampf, den sich Wilson und Heath samt ihren Parteiapparaten lieferten.

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Ein Wahlkampf in höchst unenglischer schwüler Hitze. Ein Wahlkampf neben dem Fußball-Worldcup. Ein Wahlkampf ohne Plakate und Zeitungen. Aber den Mister Smith in Birmingham, Yorkshire oder im Londoner Arbeitervorort Camden Town beschäftigte in diesem Juni 1970 der nahende Urlaub, das Abschneiden des englischen Teams in Mexiko und das Cricket-Programm in seiner Tageszeitung mehr als der Kampf, den sich Wilson und Heath samt ihren Parteiapparaten lieferten.

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Beobachter meinten übereinstimmend, daß der Wahlkampf schon lange nicht so kühl und unsichtbar vor sich gegangen sei wie diesmal. Dabei ist vieles neu; ein Premierminister stellte sich zum drittenmal der Wahl. Und schon die Achtzehnjährigen durften wählen. Freilich, nur 36 Prozent haben sich in die Wählerlisten eintragen lassen, und so zweifelt man, daß die Jungwähler diese Wahl hätten entscheiden können. Dabei ist Englands Situation rund um den 18. Juni alles andere als beruhigend. Der Kurs, den die Labour-Regierung seit 1964 eingeschlagen hat, konnte auch nicht annähernd jene Versprechungen erfüllen, mit denen Wilson 1964 erstmals antrat und 1966 seinen Vorsprung ausbaute. Heute ist die Arbeitslosenrate die höchste seit den dreißiger Jahren. Die Industrieinvestitionen sind zurückgegangen, die Auslandsschulden betragen drei Milliarden Pfund. Heath rechnete seinen Landsleuten das alles vor: „Der Führer der Labour-Party lebt in einem Trauimland — während uns neue Warnungen von den Experten der OECD zugehen. Wenn wir diese Politik fortsetzen, wird England am Ende der siebziger Jahre das ärmste Land in Westeuropa sein.“

Doch das alles sind keine Argumente, die den politikmüden Engländer noch stimulieren können. Seit Jahren hört er die Kassandrarufe über das sterbende Empire. Und viel lieber ist ihm das, was handfest ist. Nur so ist auch erklärbar, warum Labours Chancen seit dem späten Frühjahr so sprunghaft ansteigen konnten. Denn erstmals erreichte die Zahlungsbilanz einen Überschuß von 366 Millionen Pfund. Und nachdem die Öffentlichkeit (einschließlich der Tories) jahrelang auf die Zahlungsbilanz als geradezu faszinierendes Charakteristikum der wirtschaftlichen Situation Englands geblickt hatte, schien auf einmal die Sonne, wo noch kürzlich Regen war. Wilson tat auch ein Übriges: er wich jetzt endlich dem Gewerkschaftsdruck, indem er den Lohnstopp auch formell beendete. Die Folge war, daß dutzende Kleingewertoschaften in dern auch durch einen billigen und trivialen Regierungsstil. Entschlüsse wurden nur unter dem Gesichtspunkt gefaßt, die Schlagzeilen der Zeitungen zu beherrschen ...“, so das Wahlmanifest der Tories. Freilich, auch Labour schenkt der Konservativen nichts. Ein Flugblatl zeigt einen Papierkorb, in dem di Büsten von Heath und Maudling Powell und Douglas-Home stecken „Männer von gestern — sie haber schon einmal versagt!“ Und in der Tat: Der Engländer isl drauf und dran, seinen Parteier nicht mehr allzu viel zuzutrauen. Di Zahl der Unzufriedenen steigt. Aber sie nützt den oppositionellen Konservativen wenig.

Denn was den Tories fehlt, ist dei Appeal für die Massen. Im elegant Hauptquartier am Smith Square wenige Minuten vom Parlament entfernt, demonstriert Heath den Stil der kalten Technotoratie. Er ist der Mann der brillanten Rede, des eisFreilich — noch haben die englischen Hausfrauen in diesem Wahlkampf die ganze Last nicht gespürt. Und deshalb zeigte man Dankbarkeit für die Gewerkschaft und für Harold Wilson wegen der höheren Löhne. Der Wahlkampf der Konservativen war ein Wahlkampf um die Wirtschaft. Flugzettel und Plakate, das Manifest und die Reden der Politiker waren voll von Angriffen auf den Wirtschaftskurs der Sozialisten; die Labourregierung der Zukunft macht die Politik ihrer Vergangenheit: „Während der letzten sechs Jahre haben wir nicht nur unter einer schlechten Politik gelitten, sonkalten Intellekts — und der unzulässigen Vergangenheit. Der Junggeselle Heath stammt aus dem Arbeitermilieu — er ist weder adelig noch Absolvent eines besseren Colleges. Er ist der Mann, den die Tories zwar brauchen, den sie aber nicht lieben. Und so umstritten der Stand des ersten Mannes in der konservativen Partei ist, so umstritten ist er auch bei den Wählern. Er findet kaum Kontakt — und als ein schwitzender Arbeiter in der schwülen Hitze des Flughafens Heathrow dem wahlkämpfenden Heath ein Bier anbot, lehnte dieseri kalt ab: „Ich habe schon in der Maschine Kaffee getrunken ...“ So erstaunt es, daß immerhin ein Drittel der manuellen Arbeiter Englands traditionell konservativ wählt. Allerdings ist der Konservative, dem sie folgen, Heath' heftigster Opponent: Enoch Powell, „blauer“ Erzkonservativer, der die Einwanderung der Farbigen stoppen und nichts vom Anschluß Englands an Europa wissen will. Und dieser Mann wird auch in Zukunft der heftigste Opponent bleiben.

Powell hat erreicht, was Heath verhindern wollte: Die Rassenfrage wurde durch ihn zur zentralen Frage des Wahlkampfes und hat die Waffen abgestumpft, die gegen Wilsons Wirtschaftskurs gerichtet waren. Powell mußte das wissen — und er mußte auch wissen, daß gerade in den Vororten Londons und in den (entscheidenden) südlichen und südwestlichen Grafschaften die Farbigen dankbar als billige Arbeitskräfte geschätzt werden. Wer die „unnützen Konkurrenten“ (so ein Dockarbeiter in London) weghaben will, ist nur die weiße Arbeiterschaft in den reinen Industriezonen des Landes. Und unter ihnen ist der Powellismus zweite Weltanschauung. Freilich, die Hoffnung einiger Kon-

viele Einwanderer freiwillig in ihre Heimat zurückkehren möchten — sie haben hier ihre Wohnung und ihre Familien und mögen den „British way of life“. Aber ich teile auch nicht Powells Pessimismus hinsichtlich der Zukunft der Rassenbeziehungen. FURCHE: Glauben Sie nicht, daß Mr. Powells Aufruf zur Intoleranz viele Wähler abschreckt? HEATH: Wir haben den Wählern gesagt, was wir denken. Die Wähler werden sich ihr Urteil bilden. FURCHE: Powells Äußerungen stehen dazu aber im Widerspruch. HEATH: Das ist Sache von Mister Powell.entschieden haben. In Nottingham-South etwa hat 1966 der Labour-Abgeordnete Perry 24.580 Stimmen erhalten — sein Konkurrent 24.264. Die Stimmen all dieser Konservativen waren und sind verloren. Nach diesem Wahlgang ist Englands Weg in die Zukunft unklarer denn je. Das Mutterland der Demokratie ist an einer Schwelle angelangt, wo es fraglich ist, wie es die anstehenden und neuen Probleme meistern kann.

Ein verkrustetes Wirtschaftssystem kann sich aus unseligen Verklammerungen nicht lösen; die (Gewerkschaften bringen weder Einsicht noch Verständnis für die Spielregeln einer modernen Volkswirtschaft auf, sie sind in hunderte Kleinstgewerkschaften geteilt und der Regierung fehlt nur zu oft der Gesprächspartner; es gibt keine institutionalisierte Ebene sozialpartnerschaftlicher Gespräche.

Auf der anderen Seite ist das Ausbildungswesen Englands für die Anforderungen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts teilweise völlig unbrauchbar geworden. Strukturprobleme beherrschen ganze Industriezweige.

Man kann sich nicht entscheiden, was man sein will: Großmacht mit militärpolitischem Mitspracherecht, isolierte Insel mit Sperren gegen jeden Farbigen aus Jamaika oder Pakistan — oder aber ein Teil Europas, in dem es nur einen Weg der Integration gibt.

Labours und Tories pflegen Englands „Way of life“ auch diesmal als trautes Wahlkampfthema. Sie forderten nichts vom Wähler und Bürger — sie wollten ihn vielmehr in einer Lizitation der Versprechungen „höher und höher in unseren schönen Luftballons“ („The Econo-mist“) tragen.

Doch die große Krise kommt bestimmt. Die Wirtschaftsexperten malen schon jetzt ein Bild vom kommenden Jahr, in dem Englands Krise mit einer weltwirtschaftlichen Rezession zusammenfallen wird. Das Bild ist schauderhaft. Und deshalb steht Wilson als Führer seiner Partei in Frage.

Aber auch Heath muß jeden Tag fürchten, als Mann des Mißerfolgs abgeschoben zu werden. Schon immer war er den Peers verdächtig — jetzt kann er es auch den anderen Flügeln seiner Partei werden. Und im Hintergrund wartet Enoch Powell — der Mann, der „Glauben und Emotionen der Konservativen artikuliert“ („New States-man“).

Freilich: der Maschinist im Pub von Liverpool, das Hippiemädchen im Hydepark und der Kellner im Chinarestaurant des East Ends — sie alle hoffen auf „ein besseres Morgen“ — wie es ihnen die Konservativen versprachen; und darauf, daß Wilson England „besser macht, um darin zu leben“, wie Labour sagt. Was bleibt, ist für 55 Millionen Briten nur die Hoffnung.

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