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Wilson: ein Jahr Gnadenfrist

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Im Monat Oktober riefen die Parteistrategen wie alljährlich ihre Getreuen zu den groß aufgezogenen Parteikonferenzen zusammen, deren Schauplatz heuer Brighton und Blackpool waren. Den Reigen eröffnete die kleinste im Parlament vertretene Partei: die liberale Partei, unter der Führung von Jo Grim- mond, die bekanntlich gegenwärtig zwölf Abgeordnete im Unterhaus sitzen hat. Nach den beiden letzten Jahrestagen, die durch eine bevorstehende allgemeine Parlamentswahl besonderen Charakter aufwiesen, kehrte man zum Typ eines Debattierklubs zurück. Jeder Delegierte äußerte sich freimütig über politische Fragen, und wenn über den Wortlaut von Resolutionen abgestimmt wurde, gab jeder für sich eine Stimme ab; auf dem Kongreß der Liberalen Partei fehlte das Schauspiel der Blockstimmen, däs zehn Tage später die Tagung der Regierungspartei so auszeichnen sollte. Da die nächste Parlamentswahl in weiter Ferne ist, blieb die

Sensation auf der Konferenz der Liberalen aus. Es sei denn, man betrachtet das Erscheinen von etwa 2S0 Jungliberalen als eine solche. Gewiß, einige Parteiveteranen empfanden sie durchaus als Überraschung; ob man sie als positive oder als negative werten müsse,

darüber war man sich nach einigen Tagen noch nicht klar. Zwei Forderungen dieser jungen Liberalen verdienen jedoch, vermerkt und im Gedächtnis behalten zu werden:

• Mit der Ablehnung einer Resolution für die NATO verlangten sie ein Neudurchdenken des europäischen Paktsystems.

• Wesentlicher als dies erscheint ihre Forderung nach Mitbestimmung von Arbeiterräten bei Investitionsentscheidungen, Entlassungen und anderen wichtigen Fragen in Wirtschaftsunternehmungen zu sein.

Die Selbsteinschätzung der Liberalen, und gleichzeitig eine knappe Diagnose der gegenwärtigen innenpolitischen Lage Großbritanniens, formulierte Jo Grimmond mit den Worten: „Im Unterhaus führt nun Mr. Wilson eine Mittelstandspartei, genauso wie ich oder Mr. Heath.“

Von der eher gemütlichen Schau des liberalen Kongresses blieb in Brighton eine Woche später auf der Jahrestagung der Arbeiterpartei nichts übrig. Wenngleich die Regierung nach außen eine entspannte Heiterkeit und Zuversicht zeigte, knisterte hinter den Kulissen und in den internen Gesprächen die Spannung. Würde der Premierminister auf eine offene Opposition der Gewerkschaften über seinen Lohnstopp treffen? Schließlich hatten erst kurz vor dem Kongreß einige Parteilinke offen ihrer Enttäuschung über die Politik Harold Wilsons Luft gemacht. Sollte sich der rechte Flügel, der gegen die Verteidigungspolitik rebellierte, mit dem linken Flügel, der die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften ungeschmälert wissen wollte, gar zu einer parteiinternen Koalition zusammenfinden und dem Kabinett das Mißtrauen aussprechen?

Ein zweiter Mac Donald?

Mit dem Ansteigen der Arbeits- losenziffem wurde die Erinnerung an einen anderen sozialistischen Premierminister wach, dem die offizielle Parteigeschichte den Verrat an der „sozialistischen Sache“ vorwirft, nämlich an Ramsay Mac Donald, der 1930 und 1931 die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise durch eine scharfe Deflationspolitik noch verschärfte. Das interne Mißtrauen der peripheren Gruppen gipfelte denn auch in der Frage an den Linkssozialisten Ian Mikardo: „Ist Harold Wilson ein zweiter Ramsay Mac Donald?“ und in der einsilbigen Antwort: „Ja!“ Das Mitglied der Parteiexekutive Tom Dri- iberg schwächte dieses Urteil ab: „Geschichte wiederholt sich zwar — aber nicht ganz.“ Manchmal wurde man das Gefühl nicht los, daß es sich bei dem heurigen Parteikongreß nicht um eine Diskussion über politische Strategie und Taktik handelte, sondern um ein Tribunal, dessen Angeklagte das Kabinett Wilson, dessen Ankläger die vielen kleinen Parteiarbeiter, Gewerkschaftsfunktionäre — an der Spitze der frühere Minister Frank Cousins — und die Intellektuellen, dessen Richter die ausländischen Beobachter und die Vertreter der Massenmedien und dessen Geschworenen die britische Öffentlichkeit schlechthin darstellte. Dem Ergebnis der Meinungsumfragen zufolge hat dieses Tribunal mit einem Freispruch und einem Vertrauensvotum für Harold Wilson geendet, da der Premierminister nach wie vor einen beachtlichen Vorsprung vor Edward Heath auf weist; Wahlmathematiker sind deshalb der Ansicht, daß Mister Wilson und die Labour Party auch jetzt noch — trotz Lohnstopp und steigender Arbeitslosigkeit — eine allgemeine Parlamentswahl mit einer Mehrheit gewänne, die kaum hinter jener zurückbliebe, die im Frühling tatsächlich erreicht worden ist.

Von diesem Verdikt scharf zu unterscheiden ist die parteiinterne Meinung. Sie ist für das Kabinett bei weitem ungünstiger, Frau Minister für Kultur, Miß Jennie Lee, faßte das Dilemma der Parteikonferenz ziemlich genau zusammen, jedenfalls objektiver als viele Obduktionsbefunde es taten: Die Jahrestagung vom Oktober 1966 würde dem Premierminister und seinem Kabinett zusätzlichen Spielraum geben, aber falls sie nicht die Mittel zur Lösung des Lohn- und Preisproblems fänden, würde die Jahrestagung 1967 ein völlig anderes Bild zeigen.

Heath bläst zur Vergeltung

War die Arbeiterpartei sich des Interesses für das Geschehen am und um den Parteikongreß sicher, bot die Tagung der konservativen Partei in Blackpool der Opposition eine willkommene Gelegenheit, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen. Außerdem ergab sich für den Oppositionsführer Edward Heath die Möglichkeit, die Einigkeit der Tories zur Schau zu stellen und alle Gerüchte, nach denen hinter den Kulissen bereits ein Wettlauf um seine Nachfolge ausgebrochen sei, gründlich zu zerstreuen. Im Gegenteil: Manche Beobachter hatten den Eindruck, daß Mr. Heath der Wandel vom „Technokraten“ zum echten Parteiführer gelungen ist; ihrer Ansicht nach könnten die kommenden Jahre durch die Polarität Wilson—Heath in ähnlicher Weise gekennzeichnet sein wie die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durch Gladstone—Disraeli es Tiaren.

Neben diesem persönlichen Popularitätsgewinn erzielte Mister Heath noch einen weiteren Erfolg. Er unterschob den Tories, die notorisch als eine Partei ohne Ideologie gelten, eine echte Parteilinie, eine Parteiideologie, zumindest auf wirtschaftlichem Gebiet. Dieser gemeinsame Nenner ist die Doktrin der Freien Wirtschaft, die in manchem an den Ordoliberalismus der CDU der fünfziger Jahre erinnert. Die Tories haben damit ihre Koketterie mit einer Wirtschaftsplanung, die unter Sir Alec Douglas-Home und der Gründung des National Economic Development Council vor drei bis vier Jahren eingeleitet worden ist, auf gegeben; in Fragen der Wirtschaftsordnung scheint der Apostel einer freien Unternehmenswirt schaft, Enoch Powell, wieder einen größeren Einfluß zu haben; sicherlich geht die Betonung der Wettbewerbsordnung auch auf den persönlichen Einsatz Mr. Heath’s zurück, der bekanntlich im Frühjahr 1964 die festen Einzelhandelspreise abgeschafft hat. Aber wird eine Wettbewerbsordnung ausreichen, um die nötigen strukturellen Änderungen in der britischen Wirtschaft durchzuführen? Das Schicksal Kanzler Erhards läßt einen hier eher zum Pessimismus neigen.

Außerdem treten die Tories für eine gesetzliche Reform der Gewerkschaftsbewegung ein. Sobald das Parlament den Rahmen für alle Fragen gefunden hat, die im Zusammenhang mit den Gewerkschaf ten derzeit diskutiert werden, sollten sie sich völlig frei bewegen können. Deshalb lehnen die Konservativen einen gesetzlichen Lohnstopp, der Verhandlungen zwischen Unternehmer und Gewerkschaften über Lohnfragen verbietet (der berüchtigte Teil IV des Gesetzes vom Juli 1966), rundweg ab. Edward Heath rief jene Vertreter der Wirtschaft zur Ordnung, die auf dem Kongreß in Blackpool einander händereibend zuwinkten und sagten „Wilson prügelt die Gewerkschaften“; jene Leute sollten auf- hören, sich Konservative zu nennen, sie sollten die Partei verlassen als ein Teil der schmerzvollen Umerziehung und Anpassung der Partei an die Realität der Gegenwart.

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