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Talleyrand und Seiltänzer
Wenn es in der britischen Politik der Nachkriegsjahre eine konstante Größe gegeben hat, so war dies zweifellos Harold Wilson. 1945, im Alter von 29 Jahren, erstmals ins Unterhaus berufen, übernahm er 1963 die Führung einer demoralisierten und tiefer als heute gespaltenen Labour-Partei, die unter ihm schon ein Jahr später, nach fast 13 Jahren in der Opposition, zur Regierungspartei wurde. Und heute, nach insgesamt fast acht Jahren als Premierminister und nach insgesamt vier gewonnenen Wahlen, kann der Mann, der am 11. März seinen 60. Geburtstag feierte, den wohlverdienten Ruhestand in dem Bewußtsein antreten, zumindest zwei historische Leistungen für sein Land und für seine Partei vollbracht zu haben. Er war der Baumeister des Referendums, durch das Grobritanniens Mitgliedschaft bei der Europäischen Gemeinschaft endgültig besiegelt wurde — gegen die Intentionen vieler einflußreicher Mitglieder seiner eigenen Labour-Partei, deren angesagte Spaltung oder Auflösung dabei einmal mehr nicht stattfand. Und im vergangenen Jahr präsidierte Wilson beim Zu-standekommmen der wirksamsten und erfolgreichsten freiwilligen Lohnstopp-Politik, die es jemals in Großbritannien gegeben hat und durch die die Inflationsrate des Landes seit dem letzten Juli um mehr als die Hälfte verringert werden konnte.
Überhaupt sind es innen-, und vor allem parteipolitische Leistungen, für die Harold Wilson mit Recht zu bewundern ist. Die Führung der britischen Labour-Party, dieses einzigartigen Konglomerats aus Liberalen, Sozialdemokraten, Marxisten und Trotzkisten, verlangt Fähigkeiten, die dem diplomatischen Geschick eines Talleyrand, der Balancetechnik eines Seiltänzers und der dicken Haut eines Nilpferdes entsprechen. Uber alle diese Fähigkeiten verfügt der britische Premierminister in höchstem Maße, und er selbst hat es auch jetzt als bedeutendste Errungenschaft seiner 13jährigen Parteiführung bezeichnet, die Labour-Partei nicht nur, allen Widerständen zum Trotz, zusammengehalten, sondern sie sogar zur sieggewohnten, natürlichen Regierungspartei Großbritanniens gemacht zu haben. Man hat Wilson immer wieder vorgeworfen, er opfere in seinem Streben nach parteilicher Einigkeit seine Prinzipien taktischen Erwägungen — aber immer wieder hat der Erfolg
ihm recht gegeben. Das jetzige Einverständnis zwischen Gewerkschaftsbund und Regierung, durch das allein die Lohnpolitik der Regierung realisiert werden konnte, ist das Ergebnis dieser Haltung ebenso, wie die enge und fruchtbare Allianz zwischen Wilson und Jack Jones, dem Führer der größten britischen Gewerkschaft, jener der Transportarbeiter. Der linke Flügel der Labour-Partei, die Tribune-Gruppe, mag lautstark protestieren und der Regierung auch eine gelegentliche Abstimmungsniederlage im Unterhaus bereiten, aber die Säule, auf die sich eine britische Labour-Regierung stützt, ist und bleibt ihr Verhältnis zur Gewerkschaftsbewegung, und hier hat Wilsons Politik hervorragend funktioniert. Noch am Tage vor seinem Rücktritt riefen die Führer der drei größten britischen Gewerkschaften, die zusammen etwa die Hälfte von Großbritanniens 10 Millionen Gewerkschaftlern vertreten, zur Einigkeit innerhalb der Labour-Regierung und zur Unter-
stützung der Regierungspolitik auf
— ein glänzender Erfolg der Wilson-schen Strategie.
Warum also tritt der Premierminister gerade jetzt zurück, auf der Höhe seines innenpolitischen Erfolges und an der Schwelle eines langsam beginnenden wirtschaftlichen Aufschwungs? Er selbst hat gesagt
— und auch die zynischesten Kommentatoren sind geneigt, es ihm zu glauben —, daß es keine geheimen Gründe für seinen Entschluß gebe. Der Sechzigjährige will Schluß machen, bevor eine Arbeitsleistung von rund 80 Wochenstunden auch seine eiserne Gesundheit angreift, und er will auch seinen langjährigen Mini-sterkollegen Gelegenheit geben, sich in der Regierungs- und Parteiführung zu bewähren. Am 25. März werden die 317 Labour-Abgeordneten — darunter auch der neue „Hin-terbänkler“ Harold Wilson — zusammentreten, um im ersten Wahlgang nicht nur über die Person ihres neuen Parteiführers, sondern damit auch des neuen Premierministers zu
entscheiden. Es ist das erstemal, daß in der Geschichte der Labour-Partei eine derartige Wahl stattfindet, und unter den Kandidaten ragt in erster Linie Außenminister James Callaghan hervor, ein Mann der Mitte, wie Wilson, und am ehesten in der Lage, sich die Loyalität beider Flügel der Labour-Partei zu sichern; weder Schatzkanzler Healey noch Innenminister Jenkins, die beiden anderen Spitzenkandidaten, werden sich voraussichtlich gegen den Widerstand der Linken durchsetzen können.
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