6833379-1974_51_07.jpg
Digital In Arbeit

Nach Heath

Werbung
Werbung
Werbung

Die Tories, die Mitglieder der großen und traditionsreichen Konservativen Partei Großbritanniens, stecken zur Zeit in einer Krise, deren Ausmaß und existenzbedrohende Gefährlichkeit immer unabsehbarer werden, wenn sie auch durch die akute Wirtschaftsmisere des Landes etwas in den Hintergrund gedrängt wird. Jede politische Partei braucht nach einer Wahlniederlage eine Periode der Besinnung der moralischen und ideologischen Wiederaufrüstung, und dabei kann es gelegentlich ruhig auch ein wenig hitzig zugehen; das Rollen einiger stagnierender alter Köpfe ist oft sehr gesund für das neue Wachstum des parteilichen Organismus.

Bei den Tories aber liegt das Übel — man möchte beinahe von einem immer weiter um sich greifenden malignen Tumor sprechen — noch viel tiefer. Die Konservativen haben nicht eine, sondern vier der letzten fünf britischen Parlamentswahlen verloren, davon allein in diesem Jahr zwei hintereinander, und sie müssen sich heute eine grundlegende Frage stellen: nicht so sehr die nach der Person ihres nächsten Führers, sondern die nach dem eigentlichen Wesen, dem Image der Partei, das sie dem britischen Volk bei den nächsten Wahlen präsentieren wollen.

„Der Toryismus, die Tory-Politik also“, so schrieb vor rund hundert Jahren Disraeli, einer der größten britischen Premierminister, „ist oder soll doch sein die Verkörperung des britischen Volkscharakters“. Die Konservativen von heute haben diesen Aspekt ihrer Politik leider nur allzu oft — wenn auch aus den ehrenhaftesten Gründen — außer acht gelassen, was zur der weitverbreiteten Unzufriedenheit mit ihrer Partei beigetragen hat. In der letzten Dekade politischen Lebens in Großbritannien ist es fast ausschließlich die Linke gewesen, die Labourpartei also, die zur selbsternannten vox populi geworden ist, die das gesamte Vokabular der politischen und sozialen Debatte in Großbritannien formuliert hat und auf deren Ideologie — oder Demagogie — die Kon servativen die Antwort schuldig geblieben sind.

Und hier muß man zur Frage der Parteiführung zurückkehren beziehungsweise dazu, in welchem Ausmaß eine große politische Partei ln ihrer Philosophie und Ideologie durch einzelne Persönlichkeiten geformt wird. Was ist falsch an dem Toryismus oder Konservativismus, wie er sich unter Edward Heath in den letzten zehn Jahren entwickelt hat? Zunächst einmal muß man sich darüber klar sein, daß, wenn Heath als Parteiführer zurücktritt — und das wird früher oder später unvermeidlich sein — dies nicht deshalb geschieht, weil etwa sein TV-Image nicht „ankommt“ oder weil er seinem Widerpart Harold Wilson dialektisch unterlegen ist; er ist seiner Aufgabe vielmehr deshalb nicht gerecht geworden, weil es ihm offensichtlich bei aller persönlichen Integrität nicht möglich war, dem britischen Volk eine kohärente und überzeugende Darstellung davon zu geben, wofür die Konservative Partei essentiell steht, welche Philosophie sie vertritt und wie jeder einzelne Staatsbürger darin Platz hat. Edward Heath jedoch ist, und das haben einige seiner Parteifreunde schon vor zehn Jahren erkannt, nichts weniger als ein Ideologe oder politischer Philosoph; er ist ein Mann, der Politiker geworden ist, um etwas zu tun, um praktische Resultate zu erzielen, nicht um eine Ideologie auszuarbeiten oder zu leben. Und eben dieser durchaus ehrenhafte und realistische Standpunkt war es, der die Tories bis zu ihrem heutigen Tiefpunkt gebracht hat, der durch das nüchtern-utilitaristische Außerachtlassen oder Unterdrücken parteiideologischer Instinkte jene Spannungen geschaffen hat, durch die eben die Effizienz beeinträchtigt wurde, die das Ergebnis dieser Einstellung hätte sein sollen.

Damit kommen wir, zum letzten und vielleicht zum akutesten Problem der Konservativen Partei, zu ihrer Suche nach einer Persönlichkeit, die der Partei neues Profil geben und sie wieder nach oben führen soll. Auch hier scheint zunächst wenig Grund zum Optimismus gegeben zu sein. Einige der fähigsten Tories sind entweder frühzeitig verstorben, wie etwa der ehemalige Schatzkanzler Ian MacLeod, oder sie haben der Politik auf höchster Ebene den Rücken gekehrt, wie Anthony Barber oder Reginald Maudling. Das wahrscheinlich populärste Mitglied des Schattenkabinetts, der frühere Nordirlandminister William Whitelaw, ist ein loyaler Anhänger von Ted Heath und will nicht gegen ihn kandidieren; der erwähnte Sir Keith Joseph, wohl der schärfste Intellekt in der gegenwärtigen Toryführung, hat seine bis dahin großen Chancen durch eine kürzliche Rede stark be- eintächtigt, als er sich mit einem erstaunlichen Mangel an politischem Fingerspitzengefühl bei dem Thema Geburtenkontrolle in die Bereiche von Eugenik und Zuchtwahl vorwagte. Die 49jährige ehemalige Erziehungsministerin Margaret Thatcher, von vielen als potientieller

Tory-Politikerin Thatcher: Erster weiblicher Premier?

Photo: Keystone erster weiblicher Premierminister genannt, leistete sich jetzt einen ähnlichen Lapsus, als sie Englands Hausfrauen zum Horten von Lebensmitteln als Schutz gegen Inflation aufforderte.

Die Situation der Tories ist also nichts weniger als rosig; aber eine Partei, die so fest im Volk begründet ist, daß sie selbst in ihrem jetzigen Zustand bei den Wahlen im Oktober ‘ immerhin fast 40 Prozent aller Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, muß und wird Mittel und Wege und Persönlichkeiten finden, um ihre heutige Existenzkrise zu überwinden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung