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Der beste Liberale, den es zur Zeit gibt

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Es gibt ein englisches Sprichwort, das dem Sinne nach die militärische Tugend der Flucht preist: Der Soldat, der davonläuft, bleibt am Leben, um an einem anderen Tag weiterkämpfen zu können. Die britische Labourregie- rung hat dies jetzt zweimal getan: zuerst am 17. März in der Unterhausdebatte über die Kürzung der Staatsausgaben, als sie sich weigerte, an einer Abstimmung über ihre diesbezügliche Politik teilzunehmen: dann, nach dem dadurch verursachten Mißtrauensantrag der Konservativen, verhinderte die Minderheitsregierung Callaghan eine sichere Abstimmungsniederlage, Neuwahlen und einen fast sicheren Sieg der Tories durch ein seltsames Abkommen mit der Liberalen Partei, deren 13 Abgeordnete dann am 23. März mithalfen, den konservativen Tadelsantrag mit 322 gegen 298 Stimmen abzuweisen.

Um bei den englischen Sprichwörtern zu bleiben: Politik macht seltsame Bettgenossen. Sehen wir uns doch das neue sozialistisch-liberale „Ehepaar“ einmal näher an. Die Mannen um Callaghan bilden seit eh und je schon an sich eine Koalitionspartei, bestehend aus den verschiedensten Gruppierungen des Zentrums, der Linken und der Gewerkschaften. Vielleicht ist Labour gerade deshalb im allgemeinen offiziellen Koalitionen mit anderen Parteien so sehr abgeneigt, weil sie dadurch eine Intensivierung der inneren Zersplitterung befürchten. Aber es ist in letzter Zeit immer mehr zu einem typischen Phänomen britischer Regierungen geworden, daß sie von ihren linken oder rechten Positionen aus um so deutlicher dem Zentrum, der politischen Mitte zu tendieren, je länger sie im Amt bleiben. Die Maßnahmen, zu deren Durchführung sich die „sozialistische“ Regierung Großbritanniens jetzt, und wohl noch mehr in den kommenden Monaten gezwungen sieht - nicht etwa auf Grund einer souveränen Strategie der Oppositionsparteien, sondern vielmehr als Folge eines unwiderstehlichen Kausalnexus von Entwicklungen in den letzten zwei Jahren - diese Maßnahmen also entsprechen genau dem, was eine konservative Regierung unter Margaret Thatcher tun würde: die britische Wirtschaft streng nach den Wünschen der Geldgeber vom Internationalen Währungsfonds führen, scharfe Kontrolle der Staatsausgaben in Verbindung mit Einkommenssteuersenkungen, erhöhte Betonung von Investitionen in der Privatindustrie, keine weiteren Verstaatlichungen und vor allem keine tiefgreifenden, kontroversiellen Gesetzesanträge - oder noch besser: überhaupt keine neuen Gesetzesanträge, außer solchen, bei denen eine freie, parteiungebundene Abstimmung im Unterhaus möglich ist. Soweit also Jim Callaghan, der beste „konservative“ Premierminister, den es zur Zeit gibt; die „echt“ konservative Parteiführerin Mrs. Thatcher könnte die Regierungspolitik kaum energischer in konservative Bahnen lenken, als dies jetzt ohnehin der Fall ist und als es durch den sozialistischliberalen Pakt nun weiter besiegelt wurde.

Und die Liberalen? Seit mehr als einem halben Jahrhundert haben sie keine Machtposition in Großbritannien innegehabt, und wenn sie auch bei den letzten Wahlen über 5 Millionen Stimmen erhielten - etwa ein Achtel der Gesamtstimmen - so haben sie heute auf Grund des britischen Wahlrechts doch nur 13 von 635 Sitzen im Unterhaus. Die Liberalen bezeichnen sich immer noch als radikale Partei, sind aber von Labour dadurch unterschieden, daß sie keine enge Verbindung mit der britischen Gewerkschaftsbewegung haben und auch finanziell nicht von dieser abhängig sind. Darüber hinaus sind sie erklärte Gegner des doktrinären Sozialismus vonLabours linkem Flügel undlehnen zum Beispiel dessen Verstaatlichungsprogramm eindeutig ab. Obwohl die Liberale Partei oft beschuldigt wird, keine wirklich eigenständige, „liberale“ Politik zu haben, wurden in den letzten Jahrzehnten sowohl von konservativen als auch von Labourre- gierungen des öfteren Ideen übernommen und Maßnahmen durchge führt, die zuerst von den Liberalen formuliert worden waren; diese waren es zum Beispiel, die erstmalig öffentlich den britischen EG-Beitritt gefordert hatten.

In der jetzigen Situation ist der liberale Parteichef David Steel wahrscheinlich der klarste Gewinner, gleichgültig, wie lange die „Nothochzeit“ mit der Labourpartei dauern wird. Er hat die Chance ergriffen, die sein Vorgänger Jeremy Thorpe vor drei Jahren ausgeschlagen hatte, als ihm nach den Februarwahlen von 1974

Premierminister Edward Heath eine konservativ-liberale Koalition anbot. Damals hätten die Liberalen sogar Ministerposten erhalten können, während der jetzige Pakt mitLabour außer einem recht vagen „Konsultationsapparat“ den Liberalen kaum konkrete Zugeständnisse macht, abgesehen von solchen, zu denen sich Callaghan unter dem Druck der Verhältnisse ohnehin hätte bereitfinden müssen. Aber immerhin ist der äußere Anschein realer politischer Einflußnahme gegeben, nach der die Liberalen nach fast 50

Jahren in der politischen Wildnis so hungrig sind, und die 13 liberalen Abgeordneten werden wenigstens in den nächsten Monaten unter Beweis stellen können, daß sie einen ernstzunehmenden Faktor im politischen Leben Großbritanniens darstellen.

Der große Verlierer dieser jüngsten Entwicklungen ist nicht, wie man dies aus konservativen Kreisen jetzt natürlich hört, die britische Wirtschaft und das britische Volk, für die Neuwahlen zu diesem Zeitpunkt ohnehin höchst ungelegen, ja schädlich gewesen wären. Der Verlierer ist vielmehr die Konservative Partei und die Unsicherheit und Unschärfe ihres politischen Programmes. Margaret Thatcher selbst hinterließ in ihrer Unterhausrede anläßlich ihres Mißtrauensantrags gegen die Regierung keinen guten Eindruck, die Ungewißheit und die Meinungsverschiedenheiten konservativer Ideen über Fragen wie Lohnpolitik, Arbeitslosigkeit und Dezentralisierung wurden mit peinlicher Klarheit offenkundig. Und sie blieb auch dem liberalen Parteichef die Antwort auf die Frage schuldig, warum die Tories Anfang 1974 eine konservativ-liberale Koalition als höchsten Patriotismus hingestellt hätten, während sie das jetzige Labour-li- berale Abkommen als schmutzigen Kuhhandel bezeichnen.

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